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Gegründet in Berlin am 4. November 1809

Ernst Ludwig Heim


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Heim, Ernst Ludwig (1747-1834)

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Lehr- und Wanderjahre

Auf einem Diner beim Staatskanzler Hardenberg begegneten sich am 5. August 1814 Fürst Blücher und der Berliner Arzt Dr. Heim, der dem soeben von der Berliner Universität zum Ehrendoktor ernannten Feldmarschall mit den Worten zutrank: "Es lebe der Doktor der Feldmarschälle!", worauf Blücher schlagfertig erwiderte: "Es lebe der Feldmarschall der Doktoren!"

In der Tat war Heim damals der hervorragendste praktische Mediziner weithin, und bis heute ist er unangefochten der populärste Arzt Berlins geblieben. Kaum einer hat im Laufe eines langen Lebens eine so gigantische Arbeitslast bewältigt wie dieser begnadete Heiler. Dabei hat er diese ungewöhnliche Lebensleistung seiner schwächlichen Konstitution abringen müssen; noch während des halben Jahrhunderts, in dem er seine Berliner Praxis ausübte, wurde er immer wieder von schweren Krankheiten heimgesucht, die ihn oft bis an den Rand des Todes brachten.

Schon bei der Geburt dieses thüringischen Pfarrerssohnes aus dem kleinen Kirchdorf Solz im Sommer des Jahres 1747 zweifelte man daran, dieses schwache Kind am Leben erhalten zu können, so daß man die Nottaufe vollziehen mußte. Trotzdem verfuhr der Vater, der sich als Verfasser der Hennebergschen Chronik einen Namen gemacht hatte und der in Notfällen auch als Arzt zu fungieren verstand, bei der Erziehung seiner fünf Söhne streng nach spartanischen Prinzipien, so daß Heim später bekannte: Fast kein Tag verging, wo wir nicht hart gezüchtigt wurden. Ich kann mit Wahrheit sagen, daß bis in mein 17. Jahr mir der Rücken nie heil geworden ist.'

Während dieser unerbittliche Erzieher morgens seine Söhne selbst unterrichtete, hatten diese in der freien Zeit Gartenarbeit zu verrichten. Aber schon mit fünf Jahren hatte sich der kleine Ernst Ludwig fest für den Beruf des Arztes entschieden. Bereits als junge entwickelte er eine ungeahnte Kunstfertigkeit, Katzen, die seine Brüder einfingen, nach allen Pegeln der medizinischen Kunst zu sezieren. Auch später pflegte er seine Diagnosen stets durch Obduktionen zu überprüfen. Der Tod der Mutter bestärkte den Sechzehnjährigen dann in seinem Entschluß, kranken Menschen um jeden Preis zu helfen. Er führte diesen nämlich auf eine falsche Therapie zurück, gegen die er mit vernünftigen Gegenargumenten vergebens angekämpft hatte. Nach einem kurzen Besuch des Meininger Gymnasiums bezog Heim dann die Universität Halle. Trotz aller Entbehrungen, die er sich während des Stadiums auferlegen mußte, da der Vater bei einem Gehalt von nur 300 Tälern alle Söhne studieren ließ, war Heim nun ganz in seinem eigentlichen Element. Die suggestive Ausstrahlung seiner ungebrochenen Persönlichkeit verlieh ihm bald den Ruf eines "Arztes von Gottes Gnaden'. Bereits in seinen Studienjahren behandelte er mehr als zweihundert Kranke, meist Kommilitonen, die sich vertrauensvoll an ihn wandten, da ihm der Ruf vorausging, auch da noch Wunder wirken zu können, wo die Kunst anderer Ärzte versagte. Die von ihm angewandten Heilmethoden verrieten bereits den vorwiegend intuitiv reagierenden Praktiker, der später sehr schnell zu internationalem Ruhm gelangen sollte. Dabei bediente er sich bereits in seinen Anfängen oft gewagter und drastischer Methoden, die sich aller ärztlichen Empirie zu widersetzen schienen und die ihm zwar die Bewunderung, oft aber auch die unverhohlene Skepsis seiner Kollegen eintrugen. Immerhin waren seine Erfolge oft so erstaunlich, daß sie selbst seine erbittertsten Kritiker überzeugen mußten.

Das zentrale Ereignis seiner Halleschen Jahre war für Heim seine Freundschaft mit dem jungen Muzel, dem Sohn des Leibarztes Friedrichs des Großen, mit dein er nicht nur gemeinsam sein Studium abschloß, sondern mit dem er auch auf Kosten von Muzels Vater eine mehrjährige wissenschaftliche Reise nach England, Holland und Frankreich unternahm, auf der beide dann auch mit Rousseau zusammentrafen. Sensationell aber geradezu mutet Heims Besteigung des Straßburger Münsters während dieser Reise an. Als er bei seinem Aufenthalt in Straßburg nämlich erfahren hatte, daß dort ein Handwerksbursche zu Ehren der auf der Durchreise befindlichen Marie Antoinette diesen Turm erklettert und auf dessen Spitze eine Fahne geschwenkt hatte, wettete Heim, der von Kindheit an im Erklettern von Bäumen, Dächern und Türmen geübt war, dieses Kunststück ebenfalls vollbringen zu können. Und wirklich: auf den Querbalken des Turmkreuzes reitend, schwenkte er 475 Fuß über der Stadt sein 'Taschentuch mit einer Selbstsicherheit, die den erstaunten Zuschauern das Blut in den Adern erstarren ließ. Nach seinem Abstieg allerdings bekannte er, um keinen Preis mehr die Götter auf diese Weise versuchen zu wollen.

Arzt von Gottes Gnaden

Der ganze Ernst des Lebens aber forderte ihn dann, als er im Frühjahr 1776 auf Empfehlung von Muzels Vater zum Kreisphysikus des Havellandes mit Sitz in Spandau ernannt wurde. Hier konnte sich der ausgepichte medizinische Praktiker gleich auf Anhieb die Sporen verdienen. Nur mit äußerster Energie vermochte er die Schwierigkeiten, die sich damals einem Landarzt entgegenstellten, zu bewältigen. Da die Wege meist noch nicht gepflastert waren und man mit Wagen in dem sandigen Gelände nur schwer vorankam, mußte Heim bei Wind und Wetter zu Pferd seine Patienten aufsuchen. Oft bewältigte er auf diese Weise mehr als hundert Meilen in einem Monat. Immer mehr gewöhnte er sich daran, mit nur fünf Stunden Schlaf auskommen zu können, da er oft mitten in der Nacht Kranke in Potsdam, Oranienburg, Tegel oder Berlin zu besuchen hatte.

Schon als junger Arzt faßte Heim seinen Beruf vor allem als eine soziale Mission auf. Neben Angehörigen des preußischen Herrscherhauses wie den Prinzen Ferdinand und der Prinzessin Amalie betreute er auch unermüdlich die Armen und Ärmsten. Noch ehe er 1783 den entscheidenden Schritt in die Hauptstadt wagte, suchte er sich unter den frommen, haustüchtigen und vollbusigen Spandauerinnen die Tochter des Kaufmanns Mäker zur Lebensgefährtin aus. Das junge Paar wohnte dann zunächst am Gendarmenmarkt, bis es in ein Haus in der Markgrafen- Ecke Kronenstraße umzog, in dem Heim fast ein halbes Jahrhundert zum Segen der kranken Berliner praktizierte.

Trotz anfänglichen Widerstandes seiner Kollegen, die nicht zu Unrecht Heims fachliche Überlegenheit fürchteten, eroberte er sich die Herzen der Berliner im Sturme. Bald schon schrieb er mehr Rezepte für die Schloßapotheke aus, die damals Arznei an Arme ohne Entgelt abgab, als alle anderen Berliner Ärzte zusammen. Die Zahl dieser Rezepte reichte oft in einem Monat an die Tausend heran. Mit den Jahren wurde der Volksmann Heim, der die Armen bereits morgens zwischen fünf und acht Uhr kostenlos zu behandeln pflegte, eine feste Berliner Institution. Er wuchs immer mehr zu einer legendären Gestalt heran und galt, da er auf akademische Seriosität keinen Wert legte, bald als echtes Berliner Original, das in unzähligen Anekdoten, die heute noch über ihn kursieren, weiterlebt. Sie alle belegen sein Tatchristentum ebenso überzeugend wie seinen Unabhängigkeitssinn und seinen Berge versetzenden Humor.

Als Arzt erreichte er bald eine so hohe Kunstfertigkeit, daß er von vielen mit den griechischen Ärzten verglichen wurde, die ihr Metier auch wie eine Kunst betrieben. Dabei scheute er sich keineswegs, auch von Laien zu lernen, und verkehrte ebenso freundschaftlich mit Scharfrichtern, Fleischern, Hufschmieden, Kurpfuschern und Kräuterweiblein wie mit seinen Kollegen, wenn es sich darum handelte, sein Wissen zum Wohle seiner Patienten zu erweitern. Er ließ sich allein durch therapeutische Erfolge überzeugen. Da er sich selbst als einen Homo naturalis', also als einen Naturmenschen, verstand, entwickelte er sich immer mehr zu einem riechenden und schmeckenden Arzt, so daß oft schon bei Betreten eines Krankenzimmers die diagnose für ihn feststand. Ein Kollege konnte daher in neidloser Bewunderung von ihm sagen: Heim weiß nicht, wie er die Leute kuriert. Unsereiner sieht und fragt und forscht wochenlang, ehe er zu behaupten wagt, er wisse, wo die Krankheit sitze. Ruft man nun Heim, so tritt er in seiner leichten Manier hinein, sieht kaum nach dem Kranken, fragt ihn oft nicht einmal, und sogleich trifft er den Punkt, auf welchen uns erst eine lange, mühsame Kombination geleitet hat."

Mit den Jahren entwickelte sich Heim immer mehr zu einem Lebensphilosophen, der sein Christentum im Sinne der Bergpredigt praktisch vorlebte. Der Tod war ihm vertraut geworden, und immer beugte er sich dem unüberhörbaren Gebot der Natur, deren Heilkräfte er geschickt zu nutzen wußte. Darüber hinaus respektierte er stets den natürlichen Instinkt des Kranken und schlug selten etwas ab, wonach ein Patient verlangte. Oberhaupt besaß er einen untrüglichen Blick für die psychischen Eigenarten eines jeden, und seine Therapie paßte sich stets geschickt der Vielheit der verschiedenen Konstitutionstypen an.

Obwohl Heim in Berlin den Verkehr mit seinen Fachkollegen suchte, blieb ihm als Praktiker doch alle überflüssige Gelehrsamkeit suspekt. Kein Arzt konnte sich daher mit größerem Recht als er praktischer Arzt" nennen. Dabei informierte er sich über alle neuen Erkenntnisse seines Fachgebiets und ging jedem Vorurteil gewissenhaft auf den Grund. In der Anwendung von Kaltwasserumschlägen und Begießungen nahm er beispielsweise wichtige Erkenntnisse von Kneipp und Prießnitz vorweg. Aber auch mit Aderlässen und Brechmitteln erreichte er bis dahin kaum beobachtete Erfolge. Selbst dem Magnetismus Mesmers und Hahnemanns Homöopathie begegnete er mit einigem Wohlwollen. Als besonderes Verdienst aber rechnete er sich die Durchsetzung der Schutzimpfung in Berlin an. Auf seine Initiative hin wurde nicht nur die Errichtung einer Anstalt zur Verbreitung der Schutzpockenimpfung vorangetrieben, sondern auch am 1. Februar 1800 die erste Impfung überhaupt durchgeführt. Als Hufeland ihm einmal seine Bedenken gegenüber der von Heim forderten Anwendung von Arsen vortrug und dabei auftrumpfte: Was werden Sie denn nun sagen, wenn Gott dereinst Rechenschaft von Ihnen fordert wegen Ihres verwegenen Spiels mit dem stärksten Gift", konterte Heim ihm lakonisch: Ich werde antworten: "Alter, davon verstehst Du nichts."

Der glückliche Heim

Durch seine Schlagfertigkeit und Heiterkeit ist Heim schließlich als der alte Heim' ins Bewußtsein der Berliner eingegangen. Sein Freimut entwaffnete selbst seine letzten Gegner, so daß Friedrich Wilhelm IV. ihn seiner Gemahlin mit den Worten vorstellen konnte: "Dr. Heim ist immer ungeniert.' Sein berühmtester Patient war die Königin Luise, der er während ihrer letzten Krankheit nicht nur mit seiner ärztlichen Kunst, sondern auch menschlich beistand. Ihre erkaltende Hand hielt er bis zum letzten Augenblick.

Zu seinem goldenen Doktorjubiläum wurde Heim dann zum Ehrenbürger der Stadt Berlin ernannt. Wohl selten hat ein Einwohner dieser Stadt diese Ehre mit so großem Recht empfangen wie Heim an jenem denkwürdigen Tage. Die Berliner feierten das Jubiläum ihres gewaltigen Todesbezwingers' drei Tage lang wie ein Volksfest. Aber erst ein Jahrzehnt darauf gab der Fünfundachtzigjährige seine Praxis auf, nachdem er über viele Dezennien hin täglich etwa achtzig Krankenbesuche erledigt hatte.

Von nun an sah der glückliche Heim", wie er ganz allgemein am Ende seines erfüllten und tatenreichen Lebens hieß, dem Tod mit Gelassenheit entgegen. Als er dann im September des Jahres 1834 starb, trauerte eine ganze Stadt um ihn. Man fuhr ihn durch das dichte Spalier der dankbaren Berliner auf den Dreifaltigkeitsfriedhof vor das Hallesche Tor, und zwölf Ärzte trugen seinen Sarg zur offenen Gruft. Die Legende will wissen, daß sich damals über dem Blumenmeer am Grabe ein Schwarm von Schmetterlingen wie ein Symbol der Unsterblichkeit ins helle Sonnenlicht erhoben habe.

Zu Heims Gedächtnisfeier sprach Hufeland, zuerst Heims erbittertster Gegner, dann aber sein vertrauter Freund, folgende bewegende Worte: "Nie dachte er an sich. Die höchste Uneigennützigkeit und gänzlicher Mangel an Habsucht und Ehrsucht waren seine Zierden. Sein ganzes Leben war Aufopferung für andere, immer bereit, immer sich gleich, bei Tag und Nacht, bei Armen und Reichen. Nicht bloß der Kreis seiner Freunde, nicht bloß Berlin und der Kreis der Hilfsbedürftigen, nicht bloß Wissenschaft und Kunst, sondern die Menschheit hat durch Heims Tod einen höchst schmerzlichen Verlust erlitten. Denn er war mehr als ein trefflicher Arzt. Er war einer der edelsten Menschen."


aus: Sichelschmidt, G.: Berühmte Berliner, Rembrandt Verlag, Berlin 1973


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