wappen0.gif Die Gesetzlose Gesellschaft zu Berlin
Gegründet in Berlin am 4. November 1809

Bemerkungen zum Problem der Urkundenfälschung im Mittelalter


Hauptseite Die Sitzungen Statistik
Chronologisches Gesamtverzeichnis Vorträge
Alphabetisches Gesamtverzeichnis Verweise

Vortrag aus Anlaß der Wiederkehr des 175. Gründungstages der
Gesetzlosen Gesellschaft zu Berlin, 1. November 1985

von Heinz Quirin

Lassen Sie mich meinen Ausführungen ein Wort voranstellen, dessen Entstehung wahrscheinlich ins 16. Jahrhundert gehört:

Mundus vult decipi - Die Welt will betrogen werden.

Die sensationelle Fälschung setzt immer eine Bereitschaft, eine Erwartungshaltung des Umfeldes, der Gesellschaft, des Betrogenen voraus. Wir können dies auch in unserem modernen Jhdt. finden, wie ja der jüngste Skandal um die unechten Hitlertagebücher beweist - in Italien sind es gefälschte Mussolinibriefe. Das Interesse der Gegenwart an historischen Ereignissen und Persönlichkeiten istauffällig stark angewachsen, wie schon ein Blick in die Medien erkennen lässt. Ist es nur die Neugier und die Bereitschaft auf Sensationen, die Enthüllungen bringen und Einblicke in Bereiche verschaffen, die sonst verschlossen bleiben, und die nun - besonders im Hinblick auf die neueste Geschichte - mit Falschmeldungen und Fälschungen befriedigt Werdein sollen? Die - nach Kujaus eigener Aussage - "gute Arbeit" hat nicht nur die breite Öffentlichkeit, sondern auch Sachkundige getäuscht. Doch im Gegensatz zu manch anderen folgenschweren Fälschungen ist diese Tagebucherfindung schnell entlarvt worden.

Heute wollen wir uns vorwiegend dem Mittelalter zuwenden, das zuweilen als "Epoche der Fälschungen" bezeichnet wird. Tatsächlich häufen sich in dieser Zeit auffallend Fälschungen, vornehmlich von Urkunden; deshalb wollen wir uns hier auf diese beschränken. Die Grenze zwischen echt und falsch ist fließend, sie lässt sich bei mittelalterlichen Urkunden nie genau festlegen. Manche Fälscher wollten durch ihre Manipulation oft nur einen formalen Mangel beheben, um früher erworbenes Gut nunmehr durch schriftlichen Beweis zu Sichern oder gutes Recht wieder herzustellen. In diese Gruppe gehören Vogteifälschungen ebenso wie nachträglich urkundlich bezeugte Klostergründungen. Es sind besonders die Schenkungsurkunden und die Privilegien, mit deren Verfälschung Besitz, Macht und Einfluss vergrößert wird; denn die Basis der kirchlichen wie auch der weltlichen Macht beruht im MA vorwiegend auf dem Grundbesitz, von dem Abgaben in Form von Naturalien, Geld und Dienstleistungen zufließen.

Von den uns überlieferten Urkunden der Merowingerkönige ist etwa die Hälfte gefälscht, von 270 registrierten Urkunden Kerls des Großen sind es ungefähr 100. Die Urkunden der ersten Sächsischen Herrscher weisen immerhin noch 10% als Fälschungen aus. Doch auch kirchliche Institutionen - wie Bistümer von Hamburg bis Passau und Klöster und Stifte von Holstein bis zum Bodensee - sind kaum ohne Fälschungen geblieben. Selbst Päpsten wurde solche nachgewiesen. So bestätigt Calixt II. als Papst (um 1120) Falsifikate, die er als Erzbischof zugunsten der Kirche hatte anfertigen lassen.

Viele große Fälschungen haben ihre eigene Geschichte und darüber hinaus selbst Geschichte gemacht, wie die Konstantinische Schenkung. Sie schafft die territoriale Grundlage für den Kirchenstaat bis ins 19. Jhdt., und sie ist ein wichtiger Bestandteil der mittelalterlichen Staats- und Kirchenlehre geworden. Zunächst wollen wir einen kurzen Blick auf ihre Entstehung werfen. Kaiser Konstantin der Große soll, als er seine Residenz von Rom nach Byzanz verlegte, im Jahr 330 an Papst Silvester I. territoriale und hoheitliche Rechte übertragen haben; seitdem beanspruchte der Papst auch das Recht, die abendländische Kaiserwürde zu verleihen. Die kritischen Prüfungen der "Schenkung" weisen aber auf ihre Anfertigung durch römische Geistliche erst im 8 Jhdt. hin.

Auch die zu einem großen Teil erfundenen frühkirchlichen Papstbriefe, als Pseudoisidorische Fälschungen bekannt, sind von einer Fälschergruppe im 9. Jhdt. fabriziert worden. Diese, nach einem fingierten Verfasser, Isidor Mercator, benannten gefälschten Dekretalen wurden ebenso schnell als echtes Rechtsgut in die Kirchenlehre einbezogen wie die echten, aus dem 4. Jhdt. stammenden. Ihre Wirksamkeit reicht über das moderne Kirchenrecht sogar noch in unsere Zeit hinein, z.B. im alleinigen Einberufungsrecht des Papstes zum ökumenischen Konzil nach Rom.

Die Rechtsgültigkeit einer Urkunde hing im MA sehr oft von ihrem Alter ab, im Streitfall hatte das nachgewiesene ältere Recht das größere Gewicht. Eine Urkunde durfte um so weniger "gescholten", also angefochten, werden, je höheren Standes ihr Aussteller war, was insbesondere auf Kaiser- bzw. Königs- und Papsturkunden zutraf die damit fast unanfechtbar blieben. Doch auch hier galt im Fall eines (seltenen) Konflikts die ältere als rechtsbeständig, denn das alte, überlieferte Recht war das bessere Recht. Daher ist es auch verständlich, dass manche Geschlechter ihre Macht- und Rechtsansprüche durch weit in die Vergangenheit zurückreichende Stammbäume zu beweisen suchten. So wurde manche Genealogie durch Fälschung untermauert oder durch Chronisten in Viten und Chroniken fälschlich auf alte Herrscherhäuser zurückgeführt, wie in der Reinhardsbrunner Chronik die karolingische Abstammung der Landgrafen von Thüringen immer wieder bezeugt wird.

Die Rechtskraft vornehmlich von Schenkungsurkunden und Privilegien konnte durch erneute Bestätigungen, die an feste Formen gebunden blieben, immer wieder neu manifestiert werden. Dabei wurde für die Fälschung eine Vorlage benutzt, deren Echtheit und Alter gesichert war, also Aussehen, Schriftbild, Zeugen (gab es erst ab 1070), Datum und Siegel mussten der Zeit entsprechen, auf die die Fälschung Bezug nahm. Entweder wurde nun in echten Stücken der Text radiert oder - und das vorwiegend - es wurden verfälschende Änderungen durch Einschübe - sog. Interpolationen - vorgenommen, Datum und Siegel aber belassen. Der Fälscher war besonders bemüht, die alte Schrift nachzuahmen.

Die meisten Fälscher kamen zunächst aus dem geistlichen Stand, denn die Zentren der Schreibtätigkeit waren -außer den Kanzleien der Könige und Päpste - ohnehin die geistlichen Mittelpunkte, die Bischofsitze und die Kloster. Erst später traten fürstliche und städtische Kanzleien wie auch private stärker hervor.

Zeitweilig wurden ganze Serien von Falsifikaten hergestellt, z.B. durch den Bischof Pilgrim von Passau (971-991) und in der Abtei Fulda (um 1200) durch den Mönch Eberhard, der mit großer Geschicklichkeit die rechtliche Aufbesserung von alten Urkunden in Königsurkunden vornahm. Auch das Kloster Reinhardsbrunn in Thüringen, von dem 13 Falsifikate bekannte sind, stellte sich im 12. Jhdt., wenn auch vergebens, mit verfälschten Urkunden einer Gründung des Klosters Georgental in unmittelbarer Nachbarschaft entgegen, um diesen unliebsamen Konkurrenten auszuschalten. Vom Berger Kloster in Altenburg sind 23 Falsifikate bekannt. Sie reichen von der gefälschten, allerdings auf echter Grundlage beruhenden Gründungsurkunde über die gefälschte Hochgerichtsbarkeit bis zu fingierten Abgabeerhöhungen. In vielen Fällen wurde einer Fälschung eine andere entgegengesetzt, oder, wie es Hinkmar von Reims im 9. Jhdt mit Witz und Scharfsinn tat, die gleiche nochmals verändert. Doch nicht alle Schreiber, die eine Urkunde fälschten oder "verunechteten", waren sich eines Verstoßes gegen die bestehende Rechtsordnung bewusst, obwohl auch im MA Urkundenfälschungen unter Strafe gestellt waren, wie u.a. der Schwabenspiegel und besonders auch das kanonische Recht ausweisen. Und trotzdem sind uns aus dieser Zeit nur wenige Strafprozeßakten, gemessen an der hohen Zahl der Fälschungsdelikte, überliefert.

Doch die große Beweiskraft der Königs- und der Papsturkunden ermunterte sicherlich so manchen Schreiber, seinem Kloster durch fälschlich "urkundlich bezeugtes Gut" zu helfen, den Besitz und damit den Einfluss zu vergrößern. Der mittelalterliche Mensch versteht das Recht als Gerechtigkeit im Bewusstsein des göttlichen Ursprungs. Nur so lässt sich der ungewöhnliche Erlass Kaiser Ottos aus dem Jahr 967 deuten, im Streitfall bei Zweifel an der Rechtmäßigkeit der vorgelegten Urkunden den Nachweis durch ein Gottesurteil im Zweikampf zu erbringen; denn Gott lässt die gerechte Sache siegen. Nach Augustin ist "Gott die Quelle der Gerechtigkeit". Nun, die Fälle, in denen dieses Ottonsche Edikt angewandt wurde, sind sehr selten. Entweder verzichtete einer der Zweikämpfer oder die streitenden Parteien einigten sich auf eine andere Weise.

Als Fälschungen erkannte Urkunden können dennoch für die Quellenforschung sehr wertvolle Hinweise geben und noch als historisches Zeugnis bewertet werden, vor allem, wenn sie als Ersatz für verlorene oder beschädigte Stücke angefertigt wurden. So schreibt Thietmar von Merseburg in seiner Chronik, er habe "dem Markgrafen von Meißen einen großen Forst entbunden", und wir können hinzufügen: weil er eine perfekte Fälschung einer - vermutlich verlorengegangenen - Schenkungsurkunde angefertigt hatte.

Über das rein Formale hinaus ist letzten Endes für die Forschung schon die Tätigkeit des Fälschers oder der Werkstatt und ihre Produktion bedeutungsvoll, denn Zeitpunkt, Anlass und Ziel sind oft durch eine bestimmte historische Situation gegeben, die damit noch an Bedeutung gewinnt. So erhalten wir aus Fälschungen im Zusammenhang mit anderen Quellen und Oberlieferungen zusätzlich Einblicke in politische und rechtliche Konflikte dieser Zeit.

Ein Beispiel dafür:

Manche der mitteldeutschen Reichskirchen griffen im 13. und 14. Jhdt., um sich zunächst gegen Einmischungen vom König, später aber gegen die zunehmenden Machtansprüche der Territorialstaaten zu sichern, zum Mittel der Urkundenfälschung. Damit verschafften sie sich Rechtstitel für den legitimen Besitz ihrer Klostergüter und der "langverbrieften" Rechte. So ließ sich das schon erwähnte Augustinerkloster in Altenburg die durch eine Fälschungsgruppe wesentlich erweiterten Rechte und allen Besitz vom König wiederum bestätigen. Später aber, als sich die Kräfte rasch verschoben, Und der Territorialstaat der Wettiner sich gegen ein geschwächtes Königstum festigte, kämpfte die Geistlichkeit desselben Stifts mit neu angefertigten Fälschungen - zunächst auch erfolgreich - um ihre Existenz in einer auch wirtschaftlich immer schwieriger werdenden Lage. Den gleichen Weg dieser dubiosen Rechtsmittelbeschaffung beschritten noch andere, so das Benediktinerkloster in Chemnitz, wie auch die Bistümer Naumburg und Merseburg, um sich gegen die zunehmenden Obergriffe der immer mächtiger Werdeneiden Landesherren (der Wettiner) zu wehren; denn aus landesherrlichem Kirchenschutz wurde bald ein Aufsichtsrecht über die Kirche. So lassen sich an diesem Beispiel auch Einblicke in die Entstehung und die Entwicklung der Landesherrschaft gewinnen.

Doch nicht nur kirchliche Institutionen bedienten sich damals der Fälschung als eines der Mittel, sich zusätzlich Privilegien zu beschaffen. Dafür können wir ein berühmtes Beispiel fürstlicher Urheberschaft an Fälschungen heranziehen: Um sein Land den Kurfürstentümern gleichzustellen, ließ Herzog Rudolf IV. von Österreich etwa um 1359 das sog. Privilegium minus (das auf eine Urkunde Barbarossas aus dem Jahr 1156 zurückgebt) durch das Privilegium mains ersetzen, das angeblich zwei Urkunden Julius Chests und Neros inseriert enthält. In einem Gutachten für den misstrauischen Karl IV. erkannte schon Petrarca die Rückführung der Privilegien auf römische Kaiser als plumpe Fälschung. Er konnte jedoch mit den damaligen Mitteln den verfälschten Rechtsinhalt nicht erkennen; das blieb dem 19. Jhdt. vorbehalten. Die echte Goldbulle Friedrich Barbarossas, von dem wahrscheinlich vernichteten Original abgeschnitten, verlieh zusätzlich den Anschein der Echtheit. Ihre staatsrechtliche Sanktion erhielten die gefälschten Privilegien zwar nicht mehr durch Karl IV., doch später durch mehrfache Bestätigung von Friedrich II. und von Habsburgischen Kaisern.

Aus anderen Falsifikaten gewinnen wir zusätzlichen Aufschluss über mittelalterliche Wirtschaftliche und soziale Verhältnisse, sowie einen Einblick in die Struktur der Grundherrschaft als Baustein der mittelalterlichen Gesellschaft. So fälschten die Ministerialen der Abtei Erstein im Elsaß um 1250 ihr Dienstrecht, vor allem, um ihre Dienstverpflichtungen einzuschränken und auch sonst mehr Freizügigkeiten in Bezug auf Heirat, Gerichtsstand, Erbrecht u.a. zu erlangen. Doch diese Fälschung ist im Vergleich mit dem ähnlichen Dienstrecht des Bistums Bamberg heute leicht zu erkennen.

Etwa vom 12. Jhdt. an, mit dem wirtschaftlichen Aufstieg, beschritten auch die Städte diesen Weg, um sich gewinnbringende Zoll Markt- und Münzprivilegien zu sichern. Daher wird die Echtheit der frühesten Stadtbriefe und -rechte oft angezweifelt. So konnten Worms wie auch Hamburg gefälschte Privilegien von Friedrich I. vorweisen, die umfassende Rechte verbrieften. In Italien war es Asti, das sich im 15. Jhdt. eines (unechten) Zoll- und Marktprivilegs Karls des Großen rühmte, wie Messina eines umfassenden Freiheitsbriefes von Heinrich IV. Auch kleinere Städte amten die großen nach und legten dubiose Urkunden vor.

Nun wird dem MA oft ein Mangel an Kritikfähigkeit und -bereitschaft vorgeworfen. Doch so oberflächlich können wir das nicht sehen. Der MA Mensch hat damals die Fälschungen oft hinnehmen müssen, weil er sie nicht erkennen konnte, oder, wenn doch, er kaum die Mittel hatte, sie zu beweisen. Es gab nicht die systematischen, kritisch-philologischen Methoden der beginnenden Neuzeit mit der Vielzahl von Kriterien, die uns heute zur Verfügung stehen. Natürlich ist die Frage nach der Echtheit einer Urkunde schon in vielen Kanzleien gestellt worden, besonders unter Innocenz III., der schon frühzeitig genaue Vorschriften zur Prüfung verdächtiger Stücke erlassen hat. An geheimen Formalien ließen sich in eigener Kanzlei gefertigte Urkunden von gefälschten unterscheiden, sogar die genauen Registereintragungen konnten ein gewisser Schutz vor Falsifikaten sein. Zu Beginn der Amtszeit von Innocenz III. wurde 1198 in Rom eine komplette Fälscherwerkstatt ausgehoben, die bereits mit seinem Namen versehene Siegel aufweisen konnte. Sicherlich erließ der Papst unter diesem Eindruck die Verordnungen zur Echtheitsprüfung, die in das kirchliche Gesetzbuch und später auch in die weltliche Rechtsliteratur übernommen worden sind. Allerdings wird hier der päpstlichen Bulle und ihrer Befestigung sehr große Aufmerksamkeit geschenkt. Und doch konnte auch dieser kluge Papst von einem englischen Mönch, Thomas von Evesham, getäuscht werden, indem ihm in Gegenwart von Kardinälen zwei gefälschte Privilegien von Papst Konstantin I. vorgelegt wurden, deren Echtheit Innocenz nur auf Grund der Siegelbefestigung nicht bezweifelte und somit einen Prozess zugunsten des Klosters entschied, in dem Thomas die gefälschten Stücke hergestellt hatte.

Zum ausgehenden MA häuften sich jedoch die Beispiele massiver Kritik. Angesichts der großen Zahl von Fälschungen forderten die die Humanisten: Zurück zu den Quellen! In ihre Forderungen schlossen sie nicht nur die christlichen Texte ein, sondern auch die antike Schriften, denen man ein neues Verständnis entgegenbrachte und daraus wiederum ein vertieftes Sprachgefühl gewann. So erkannte Lorenzo Valla ( l457) nur an sprachlichen Merkmalen die Fälschung der Konstantinischen Schenkung. Zum gleichen Ergebnis war auch Nicolaus von Cues ( 1464) gekommen, der außerdem noch einige der pseudoisidorischen Dekretalen als unecht nachwies Auf Petrarca ( 1374) haben wir im Zusammenhang mit den Österreichischen Privilegien schon hingewiesen. Doch die Kirche nahm formale Einwände gegen einzelne Dekretalen, sogar gegen die Konstantinische Schenkung hin, denn nicht die Form der Entstehung entschied, sondern allein, dass sich die Kirche mit dem alt identifizierte. Und das haben die gelehrten Kritiker wie Nicolaus von Cues und die anderen sehr wohl erkannt. Auch Fälschungen konnten einen gottgewollten Zustand nicht ändern oder gar die Kirche erschüttern. Bedeutsam ist im MA der Augenblick, in dem die Kirche Echtes wie Falsches in ein Ganzes fasste, unechte Rechtssätze der Dekretalen mit einem Titel gegen Fälschungen im Corpus Canonici vereinigte. Sie hat damit nicht nach dem Ursprung , sondern nach der Gültigkeit entschieden.

Im 17. Jhdt. kam in Frankreich (mit Mabillon) wie in Deutschland eine noch intensivere und zielbewusstere Kritik an den überlieferten Urkunden auf. Einer der hervorragendsten Gelehrten dieser Zeit war Hermann Conring aus Helmstedt. Er entschied als Gutachter der Stadt Lindau einen schon lange wahrenden Streit mit dem Damenstift Lindau. Auch dieser gehört in eine Reihe von Streitigkeiten um Hoheitsrechte zwischen Klöstern und Reichsstädten, bekannt geworden unter dem Namen bellum diplomaticum, mit Fälschungen auf beiden Seiten. Conring führte hier u.a. schon die Methode des Vergleichs mit echten Stücken desselben Ausstellers ein und erkannte so die vom Kloster vorgelegte, im 12. Jhdt. gefälschte Urkunde.

Damit wurde von ihm schon 1672 der Weg vorgezeichnet, den die Forschung im 19. Jhdt. beschritt, als man begann, die Quellen zur mittelalterlichen Geschichte systematisch zu sammeln, auszuwerten und zu edieren. Mit der kritischen Philologie entwickelte sich dann die eigentliche Urkundenlehre, die Diplomatik, als besonderer Zweig der Geschichtswissenschaften. Die Grundregeln der Urkundenkritik können modifiziert auch auf Quellen aus der Neuzeit angewandt werden.

In der ersten Hälfte des 19. Jhdts. wurde, angeregt durch den Freiherrn von Stein, die Monumenta Germania e historica ins Leben gerufen, die mit der kritischen Aufarbeitung der Oberlieferung begann und deren historisch-kritische Textausgaben Modellfall und Vorbild für viele Institutionen und deren Veröffentlichungen - auch im Ausland - sind. Viele der unmittelbar oder doch mittelbar beteiligten Gelehrten waren Mitglieder der "Gesetzlosen".

Da es natürlich im Interesse jeder Sammlung liegt, nur echte Quellen aufzunehmen und Fälschungen zu erkennen, wurde ein Katalog von Kriterien aufgestellt, der äußere wie innere Merkmale erfasst. Zunächst erstreckt sich die Beschreibung einer Urkunde auf ihre äußeren Merkmale wie Schreibstoff, Schrift , Datierung und das Siegel. Die Papsturkunden (und noch ganz frühe Merowingerurkunden) wurden bis etwa 1000 auf Papyrus geschrieben, aber vom Jahr 800 an auch schon auf Pergament , das um so feiner war, je höher der Adressat gestellt war. Papier wurde verhältnismäßig spät - erst um 1260 - eingeführt, hatte aber bis zur Mitte des 14. Jhdts. das Pergament fast vollständig verdrängt. Am Wasserzeichen konnte man oft schon die ausstellende Kanzlei erkennen, ebenso am charakteristischen Schriftbild des Schreiber. Die Sprache bleibt Latein, auch wenn im 13. Jhdt. die ersten deutschsprachigen Urkunden erschienen. Bei der Prüfung der Besiegelung muss man bedenken, dass die Siegel, um eine Fälschung glaubhafter zu machen, meist von echten Urkunden übernommen wurden. Nach Königen, Päpsten und der oberen Geistlichkeit dehnte sich die Führung von Siegeln am Anfang des 11. Jhdts. auch auf weltliche Fürsten aus, bis etwa in der Mitte des 13. Jhdts. jeder berechtigt war, ein Siegel zu führen.

Ein großer Teil der Schenkungsurkunden und Privilegien für geistliche Institutionen, weltliche Landesherren und Städte stammen aus der königlichen Kanzlei. Die Urkunde enthält außer dem Datum auch den Ort der Ausstellung oder der Obergabe; denn das mittelalterliche Reich kannte keine Residenz im späteren Sinn. Der König reiste mit seinem Hof von Pfalz zu Pfalz, er regierte sozusagen vom Sattel aus, deshalb spricht man sogar vom Reisekönigtum. Wir nennen nur einige der berühmtesten Stationen Aachen bei Karl dem Großen und anderen als Krönungsstadt und Hauptaufenthaltgort, das durch den Silberbergbau reiche Goslar, Frankfurt, Nürnberg, Regensburg, Wimpfen und Crone bei Göttingen. Die Orte, an denen sich der König während seiner Regierungszeit auf- hielt, sind in zeitlicher Reihenfolge im sog. Itinerar festgehalten; deshalb kann eine Königsurkunde an Hand von Ort und Datum meist genau eingeordnet werden. Das Erkennen eines falschen Königssiegels macht kaum Schwierigkeiten, da der Originalstempel dem verstorbenen König mit ins Grab gegeben wurde und dadurch Vergleiche möglich sind. Wie überhaupt die Methode der Urkundenkritik vorwiegend auf dem Vergleich beruht. Der in der frühen Neuzeit aufgekommene Kupferstich hat daran einen wesentlichen Anteil, denn er ermöglichte erst ein genaues und billiges Vergleichsmaterial.

Die Analyse der inneren Merkmale dient schon der Untersuchung des eigentlichen Rechtsinhalts. Sie hebt z.B. Formulierungen heraus, die in Bezug auf die Datierung nicht zeitgenössisch sein können, sog. Anachronismen, wie die Verwendung nichtzeitgenössischer Rechtsformen und Verstöße gegen das "Diktat" - den Stil der Kanzlei. So entwickelte sich aus diesen und noch vielen anderen Kriterien die Diplomatik, die heute außerdem mit den modernsten Mitteln der Naturwissenschaften und der Technik arbeitet, um ihre Ergebnisse zu sichern und zu verfeinern. Darüber hinaus ordnet sie die Stücke unter rechtsgeschichtlichen Gesichtspunkten, Echtes von Falschem sondernd, in den allgemeinen historischen Zusammenhang ein.


zurück
Letzte Änderung: 18.12.2019
© Herbert Voß
voss@Gesetzlose-Gesellschaft.DE
61 Zugriffe seit dem 24. April 2003