wappen0.gif Die Gesetzlose Gesellschaft zu Berlin
Gegründet in Berlin am 4. November 1809

Die Geschichte der Gesellschaft - Teil VII


Hauptseite Die Sitzungen Statistik
Chronologisches Gesamtverzeichnis Vorträge
Alphabetisches Gesamtverzeichnis Verweise

Anfänge (1809-1810)
Aufstieg und Beharrung (1811-1840)
Unruhige Jahrzehnte (1840-1870/71)
Wandlung (1871-1918)
Festigung (1919-1933/34)
Post Nubila Phoebus (1934-1959)
Ergänzungen (1960-1984)
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Ergänzungen(1960-1984)

Seit dem 150-Jahr-Jubiläum der Gesetzlosen Gesellschaft zu Berlin im Jahre 1959, zu dem die hervorragende Festschrift aus der Feder des Gesetzlosen Professor Dr. Dr. h. c. Willy Hoppe (514) entstand, ist ein weiteres Vierteljahrhundert vergangen, das Anlaß zu einem ergänzenden Bericht gibt. An erster Stelle sei Hoppes gedacht, der am 26. 9. 1960, also kurz nach dem Jubiläumsjahr, verstorben ist. Obwohl er nur 6 Jahre der Gesellschaft angehört hat und ihm für seine Aufgabe nur dürftiges Quellenmaterial aus dem Besitz der Gesellschaft zur Verfügung stand, hat er dank seiner landeshistorischen Kenntnisse und Heranziehung vielfältiger anderer Quellen, Memoiren usw. ein Werke geschaffen, das weit über den Kreis der Gesetzlosen hinaus als lebendiges Kulturbild der darin abgehandelten Zeitepoche anerkannt und geschätzt wird. Es war das letzte des hervorragenden Gelehrten, dessen Leben und wissenschaftliche Bedeutung im Band 11 des Jahrbuchs für brandenburgische Landesgeschichte ausführlich gewürdigt worden sind.

Wenn nun über das anschließende Vierteljahrhundert (1960 bis 1984) der Gesetzlosen Gesellschaft berichtet werden soll, so gilt weiterhin, wie für Hoppe, daß es kaum Quellenmaterial gibt. Wie eh und je seit Buttmanns Zeiten treffen sich bei den Gesetzlosen Persönlichkeiten zu einem freien ungezwungenen Gedankenaustausch, und danach ist „fast alles gesprochene ernste und heitere Wort verflogen“. Nur einmal im Jahr im November zum Gedenken an den Stiftungstag hält ein Mitglied über ein Thema seiner Wahl einen etwa dreiviertelstündigen Vortrag, für den im allgemeinen ein Konzept existiert; aber erst in den letzten Jahren sind Abschriften hiervon zu den Annalen der Gesetzlosen genommen worden. Im übrigen aber haben die Zwingherren, und auch das manchmal lückenhaft, nur kurze Notizen über die Teilnehmer an den monatlichen Treffen, Neuaufnahmen und Todesfälle gemacht; und für die Amtsperiode des Zwingherrn von Nordenflycht fehlt aus unbekannten Gründen jegliches Material. Was berichtenswert erscheint, kann somit im wesentlichen nur aus dem Gedächtnis der noch lebenden Mitglieder gewonnen werden.

Die Entwicklung der Gesetzlosen vollzog sich in den Jahren 1960 bis 1984 weiter in den Bahnen, die in der vorausgegangenen Periode der Konsolidierung vorgezeichnet waren und durch den grundlegenden Wandel in der allgemeinen Situation und besonders der von Berlin gekennzeichnet sind. Unverändert blieb nur die ungefähre Zahl der Mitglieder, die seit jeher immer zwischen 20 und 25 schwankte. So gehören zur Zeit der Gesellschaft 22 Mitglieder an, von denen 6 außerhalb Berlins wohnen. Leider ist es bisher nicht gelungen, eine grundlegende Veränderung in der seit langem bestehenden Tendenz zur Überalterung zu erreichen. Von den derzeitigen Mitgliedern sind 1 über 80, 10 über 70, 7 über 60, 3 über 50 und 1 über 40 Jahre alt. Dieses Bild steht in bemerkenswertem Gegensatz zu dem in den Anfängen der Gesellschaft, und die Bestrebungen, sich diesem wieder mehr anzugleichen, sollten fortgesetzt werden. Die Neuzugänge von 29 und Abgänge durch Todesfall, deren genaue Zahl wegen fehlender Nachrichten über einige ältere auswärtige Mitglieder nicht genau angegeben werden kann, hielten sich im Berichtszeitraum aber ungefähr die Waage. Eine tiefgreifende Änderung in der Berufsstruktur der Mitglieder bewirkte dagegen die Isolation Berlins, der Verlust der Hauptstadtfunktion und das Fehlen aller deutschen militärischen Stellen. Zwar überwog bei den Gesetzlosen schon immer das zivile das militärische Element, aber immerhin betrug in früheren Zeiten der Anteil des letzteren durchweg etwa ein Fünftel am Gesamtbestand. Im Berichtszeitraum lebten noch 6 verabschiedete hohe Offiziere - 5 Generale und 1 Oberst -. die aber alle inzwischen verstorben sind; und mit Neuzugängen ist nach Lage der Dinge kaum zu rechnen. Aber auch das zivile Element zeigt strukturelle Veränderungen. Das weit gefächerte Berufsspektrum in früheren Zeiten ist einem anderen mit einer gewissen Einseitigkeit, bei der das juristische Element dominiert, gewichen, und zwar mit 17 aktiven und früheren Richtern und Verwaltungsbeamten neben nur 3 emeritierten Universitätsprofessoren anderer Fakultäten und 2 Angehörigen freier Berufe. Auch hier wäre eine Auflockerung in Richtung auf eine größere Mannigfaltigkeit wünschenswert.

Die Tradition der regelmäßigen Zusammenkünfte an jedem ersten Freitag des Monats ab 18 Uhr mit einem kleinen Imbiß à la carte wurde fortgesetzt. Seit Ende 1974 finden sie jedoch nicht mehr im Wrangelschlößchen, sondern in den schräg gegenüberliegenden Weinstuben am Schloßparktheater statt, in denen die Atmosphäre als angenehmer empfunden wurde. Lediglich die Jahresessen im November zum Gedenken an den Stiftungstag verblieben im Wrangelschlößchen, weil die Weinstuben keinen abgeschlossenen Raum haben, ein solcher aber für die Vorträge erforderlich ist. Die Teilnahme an diesen letzteren Veranstaltungen war, auch seitens der aus Berlin verzogenen Mitglieder, mit meist mehr als 15 Personen besonders rege, während die an den regelmäßigen monatlichen Treffen je nach Jahreszeit schwankte, aber mit durchschnittlich 7 Herren befriedigend war.

Es ist nun eine Ehrenpflicht, einiger im Berichtszeitraum verstorbener Mitglieder zu gedenken, die für die Gesellschaft von besonderer Bedeutung waren. In erster Linie sind hier die fünf seither verstorbenen Zwingherren zu nennen. Der 15. Zwingherr Carl Semper starb im Alter von 91 Jahren im März 1962 in Göttingen. Er war bereits 1948 von seinem Amt zurückgetreten, als feststand, daß er nicht mehr nach Berlin zurückkehren würde. Seine Persönlichkeit ist in der Festschrift Hoppes gewürdigt worden, in die auch ein eigener Beitrag Sempers über die Verhältnisse bei den Gesetzlosen in der NS-Zeit aufgenommen wurde, da hierfür fast alles urkundliche Material fehlt. Charakteristisch für seine geistige Beweglichkeit war, daß er nach seiner aus politischen Gründen im Jahr 1928 erfolgten Verabschiedung als Präsident der Preußischen Genossenschaftskasse im Alter von 58 Jahren noch einmal Philosophie, Geschichte und Volkswirtschaft zu studieren begann und zum Dr. phil. promovierte; und seine philologische Begabung stellte er wiederholt in humorvoll geehrter Korrespondenz in lateinischer und griechischer Sprache mit „kongenialen“ Partnern, so z. B. Mussehl (s. u.), unter Beweis.

Der zu Beginn des Berichtszeitraums noch amtierende 16. Zwingherr Hans von Meibom, der schon seit längerem leidend gewesen war, starb bereits im November 1960 im Alter von 81 Jahren. Er war fast 25 Jahre Mitglied der Gesellschaft und hat sie über 12 Jahre weise und fürsorglich geleitet, wie es in den Annalen heißt. Aus persönlichem Erleben kann sein Wirken niemand mehr schildern; aber Unterlagen aus dem Privatbesitz Meiboms, die sich noch bei der Gesellschaft befinden, ergeben das Bild einer eindrucksvollen Persönlichkeit altkonservativer Prägung. Kurz nach dem ersten Weltkrieg wurde er Landrat des Kreises Meseritz, in dem er in vorbildlicher Weise gewirkt hat. Anfang 1933 wurde er zum Oberpräsidenten der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen in Schneidemühl ernannt, jedoch schon nach einigen Monaten vom NS-Regime abgelöst. Nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst war er in verschiedenen kirchlichen und wirtschaftlichen Unternehmen tätig. Seine rege Korrespondenz mit zahlreichen prominenten Persönlichkeiten, die in der Vergangenheit maßgebende Stellungen innegehabt hatten, ergibt ein interessantes Zeitbild der Entwicklung der Weimarer Republik bis zu ihrem Ende. Bei der Trauerfeier für ihn ist seiner Hingabe für die Gesellschaft und nimmermüden Tatkraft gedacht worden, der es zu danken war, daß sie trotz aller Schwierigkeiten, die sich aus den Verhältnissen nach 1945 in Berlin ergaben, zu neuem Leben erweckt werden konnte. Nachfolger Meiboms wurde als 17. Zwingherr Fritz Leberecht Mussehl, eine der markantesten Persönlichkeiten in der langen Geschichte der Gesetzlosen, zu denen er im Jahre 1932 gekommen war. Geboren 1885 in der Mark als Sohn eines Bürgermeisters, wurde er nach Absolvierung seiner juristischen Ausbildung schon in jungen Jahren mit wichtigen Aufgaben im Bereich des Preußischen Landwirtschaftsministeriums betraut und Mitte 1932 zum Staatssekretär im Reichsernährungsministerium ernannt. Als für das neue NS-Regime unbequem wurde er Ende 1933 als Vizepräsident des Rechnungshofes des Deutschen Reiches nach Potsdam versetzt. Hier wurde er nach dem Zusammenbruch im April 1945 von den Sowjets verhaftet, in einem der damals üblichen Scheinverfahren zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und erst im Juni 1955 entlassen. Daß er bei seinem Alter die Strapazen der Gefangenschaft trotz vielfältiger Erkrankungen lebend überstanden hat, war nur der seelischen und geistigen Stärke seiner Persönlichkeit zu danken, durch die er auch zur Stütze seiner Mitgefangenen wurde. Im Oktober 1955 erschien er wieder bei den Gesetzlosen, wo er schnell erneut vollen Anschluß gewann. Er pflegte diesen so, daß er vom Zwingherrn von Meibom, den er schon längere Zeit während dessen Erkrankung vertreten hatte, für seine Nachfolge nominiert wurde, die er dann nach dessen Ableben auch antrat. Leider war ihm nur eine kurze Amtszeit beschieden. Aus gesundheitlichen Gründen legte er bereits im September 1962 sein Amt nieder und bestimmte den Freiherrn von Nordenflycht (520), der der Gesellschaft seit 1955 angehörte, zu seinem Nachfolger. Unvergessen bleibt die Ausstrahlung Mussehls auf seine Umgebung dank seiner Begabung und umfassenden Bildung, besonders auf dem Gebiet der Klassik, die er nicht nur in seiner sprühenden Unterhaltung, sondern auch in umfangreichen Weihnachtsbriefen an seine näheren Bekannten bewies, in denen er wissenschaftliche und künstlerische Themen verschiedenster Art in geistreicher, wenn auch manchmal eigenwilliger Interpretation behandelte. Er starb im April 1965.

Von Nordenflycht, geboren 1887 in Ostpreußen als Sohn eines höheren Forstbeamten, war nach dem juristischen Studium und Ablegung des Regierungsassessorexamens erst Landrat, später Polizeipräsident in Magdeburg und wurde in der NS-Zeit wie viele dem Regime unerwünschte Beamte zum Rechnungshof in Potsdam versetzt. 1951 wurde er Direktor beim Bundesrechnungshof in Frankfurt am Main und lebte nach seiner Zurruhesetzung seit 1954 in Berlin. Auch seine Amtszeit war nur kurz bemessen, da er ganz unerwartet bereits im Oktober 1966 verstarb. Sein Wesen war, im Gegensatz zu der dominierenden Dynamik seines Vorgängers, eher von einer stillen und zurückhaltenden Art. Unter seiner ruhigen, sympathischen und dabei gleichwohl festen Leitung entwickelte sich die Gesellschaft weiterhin zufriedenstellend, und sein plötzliches Ableben wurde allseits bedauert. Leider sind aus seiner Amtszeit, wie bereits erwähnt, keinerlei schriftliche Aufzeichnungen vorhanden, so daß für die Chronik insoweit eine empfindliche Lücke besteht. Auch war nun ein Bruch in der Tradition eingetreten, nach der der Zwingherr immer seinen Nachfolger bestimmte. So wurde eine Wahl erforderlich. durch die im November 1966 Rudolf Weber-Lortsch (527) zum 19. Zwingherrn erkoren wurde. 1908 in Kassel geboren, nach Herkunft und stammesbetonter Überzeugung immer der geschichtlichen Tradition des alten Kurhessen verbunden, war er nach seiner juristischen Ausbildung erst in der allgemeinen Verwaltung tätig, bis er in die Verwaltungsgerichtsbarkeit übernommen und 1959 als Richter an das Bundesverwaltungsgericht in Berlin berufen wurde. Ihm war nun eine längere, zehnjährige Amtszeit beschieden, in der er durch das Geschick seiner Persönlichkeit auf die Gesellschaft einen prägenden und bleibenden Eindruck ausüben konnte. Klein und zierlich von Gestalt, humorvoll und von einer bestrickenden Liebenswürdigkeit, hielt er gleichwohl die Zügel fest in der Hand. Ähnlich wie Mussehl mit einem umfassenden historischen Wissen ausgestattet, vielseitig begabt und von manchmal sprudelnder Lebhaftigkeit, war er der anregende Mittelpunkt der Gesellschaft. Unerschöpflich schien sein Vorrat an Erlebnissen und Geschichten, die er oft in Anekdotenform und unter glänzender Beherrschung von verschiedenen Dialekten vortrug. So bahnte sich für die Gesellschaft ein schwerer Verlust an, als sich bei ihm 1975 ein ernstes Leiden manifestierte, das durch eine Operation nur vorübergehend in seinem Fortschritt gehemmt wurde und dann im September 1976 zu seinem von der Gesellschaft tief bedauerten Ableben führte. Sein Corpsbruder, der Gesetzlose Klaus Vassel (532), widmete ihm einen ergreifenden Nachruf

Während der letzten Phase seiner schweren Erkrankung hatte Weber-Lortsch den Chronisten (534) mit seiner Vertretung beauftragt, und in der Annahme, daß das auch seinem Wunsche hinsichtlich der endgültigen Nachfolge entsprach, hat dieser auf Grund des gleichlautenden Wunsches der Mitglieder der Gesellschaft im November 1976 das Amt als 20. Zwingherr übernommen. Nächst den Zwingherren soll nun einiger weiterer verstorbener Mitglieder gedacht werden, die kraft ihrer Persönlichkeit, ihres Interesses und Engagements für die Gesellschaft von besonderer Bedeutung waren.

Im Jahre 1965 verstarb der Geologe Friedrich Solger (513), der letzte Naturforscher bei den Gesetzlosen. Er war gleichzeitig mit Willy Hoppe 1954 aufgenommen worden und hatte, ähnlich wie dieser, einen ehrenvollen Auftrag erhalten, nämlich einen Überblick über die Naturforscher zu erstellen, die der Gesellschaft seit ihrem Beginn angehört haben. Das interessante Ergebnis seiner Arbeit ist im Anhang der 150-Jahr-Festschrift abgedruckt. Solger selbst war vor dem ersten Weltkrieg vier Jahre in China Leiter einer chinesischen geologischen Reichsaufnahme und wirkte danach bis zu seiner Emeritierung an der Humboldt-Universität. Er hat auf seinem speziellen Fachgebiet, auf dem er sich mit geologischen Problemen befaßte, die im Zusammenhang mit der letzten Eiszeit stehen, Bedeutendes geleistet und konnte auf ein erfülltes Leben im Dienst der Wissenschaft zurückblicken. Der etwas melancholische Ausdruck in der abschließenden Betrachtung Solgers in seiner Arbeit für die Gesetzlosen darüber, daß im Gegensatz zu den früheren Zeiten kein Naturforscher mehr den Zugang zu der Gesellschaft gefunden hat, sollte ein Ansporn sein, auch hier wieder eine Tendenzwende herbeizuführen. Daß Hoppe und Solger für die Gesellschaft gewonnen werden konnten, ist das Verdienst von Peter-Friedrich Mengel (512), der sie in seiner Zeit als Landrat des Kreises Freienwalde kennen und schätzen gelernt hatte. Ein besonderes Verdienst hat sich Mengel auch bei der Erstellung der 150-Jahr-Festschrift um die Bewältigung der dabei entstandenen organisatorischen und finanziellen Probleme erworben. Anläßlich seines Ablebens im Juni 1967 hat Egidi (s.u.), der ihm fast ein halbes Jahrhundert lang persönlich eng verbunden war, ihn in einem Brief an den Zwingherrn Weber-Lortsch als einen Vertreter bester preußischer Tradition gewürdigt, der nur durch das NS-Regime daran gehindert worden ist, seine Fähigkeiten in den Spitzenstellungen der Verwaltung einzusetzen.

Der Verein Deutscher Studenten (VDST) kann sich mancher klangvoller Namen unter seinen Mitgliedern rühmen, so auch desjenigen des Gesetzlosen Hans Egidi (518), der, 1890 in Crossen an der Oder geboren, sich schon in jungen Jahren zu einer Persönlichkeit von besonderem Rang entwickelte. Als Chargierter des VDST nahm er im Oktober 1910 an der Hundertjahr-Feier der Friedrich-Wilhelm-Universität teil, deren glanzvollen Verlauf unter der Leitung des berühmten Rektors Erich Schmidt und bei Anwesenheit des Kaisers Wilhelm II. er später oft eindrucksvoll geschildert hat. Nach dem juristischen Studium in die Verwaltungslaufbahn der Regierung übernommen wurde er bereits mit 30 Jahren zum Landrat ernannt, einem Amt, das er bis 1933 mit ungewöhnlichem Erfolg bekleidete. Von den neuen Machthabern aus politischen Gründen abgelöst und ihnen wegen seiner aufrechten Haltung ständig mißliebig, kam er schließlich auch zum Rechnungshof, dem großen Sammelbecken der Unbequemen. Seine weithin bekannten Qualitäten führten nach dem Zusammenbruch rasch zu seiner Berufung als Ministerialdirektor in das Bundesministerium des Innern und schließlich 1955 zur Ernennung zum Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts in Berlin. Zu dieser Zeit wurde er auch in die Gesetzlose Gesellschaft aufgenommen. Hier hat er den Verkehr mit ihren Mitgliedern intensiv, auch nach seiner Versetzung in den Ruhestand und Übersiedlung nach München, gepflegt. In ihm waren umfassende Begabung und Bildung, Charakterstärke und ein Rednertalent ungewöhnlichen Ausmaßes eine einzigartige Synthese eingegangen. So sind die Begegnungen mit ihm unvergessen, was ganz besonders für die beiden Vorträge gilt, die er an 2 Stiftungstagen der Gesetzlosen über den alten Wrangel (+1877) und Friedrichs des Großen Reitergeneral Seydlitz (+1773) hielt und die erneut bewiesen, wie er sein Leben lang der brandenburgisch-preußischen Tradition verbunden war. Ein Bild seiner Persönlichkeit vermitteln auch die Vorträge, die er als Ehrenmitglied des VDST bei dessen Reichsgründungsfeier am 18.1.1962 und bei der Gedenkfeier am 25.10.1964 für seinen 10 Jahre zuvor verstorbenen Bundesbruder Hermann Ehlers hielt, sowie die Gedenkrede, die anläßlich seines Ablebens - Dezember 1970 - der Gesetzlose Eugen Hering (538) bei der Feier im Bundesverwaltungsgericht gehalten hat. Ablichtungen hiervon befinden sich bei den Annalen der Gesellschaft.

Geheimrat Bernhard Karnatz (521), seit fünf Jahrzehnten eine führende Persönlichkeit in der Evangelischen Kirche Deutschlands, gehörte über 20 Jahre bis zu seinem Tode im März 1976 im Alter von fast 94 Jahren der Gesetzlosen Gesellschaft an. Auf seinem Weg durch vier Zeitepochen - vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik - in verantwortungsvollen Stellen hatte er einen Erlebnisreichtum erworben, der ihn zu einem besonders geschätzten Gesprächspartner machte. In der Weimarer Republik war er maßgeblich an dem Gesetzeswerk beteiligt, das das Verhältnis der Kirche zum Staat neu ordnete. Hierfür erhielt er die theologische und juristische Ehrendoktorwürde. Als 1933 der Evangelische Oberkirchenrat von dem NS-Regierungsbeauftragten aufgelöst wurde, verfaßte er die Klageschrift für das Verfahren dagegen beim Staatsgerichtshof in Leipzig, das jedoch durch das Eingreifen Hindenburgs, das die Rücknahme der Auflösung zur Folge hatte, nicht zum Austrag kam. Gleichwohl verlor er nach dem späteren Wahlsieg der Deutschen Christen sein Amt als Oberkonsistorialrat und überdauerte die NS-Zeit in einer fahrenden Stellung in der Versicherungswirtschaft. Seit dem Neubeginn nach 1945 war er einer der engsten Mitarbeiter des Bischofs Dibelius und bis 1958 Vizepräsident der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland. Als Vorsitzender des Jerusalemsvereins unternahm er wiederholt Reisen in das stets spannungsgeladene Gebiet von Ost-Jerusalem, worüber er fesselnd berichtete. Noch im Alter von 89 Jahren hielt er beim Jahresessen 1971 mit unverminderter geistiger Kraft einen Vortrag über die interessante Geschichte des kurzlebigen Bistums Jerusalem.

Zu denjenigen, die die monatlichen Treffen am regelmäßigsten besuchten, gehörte Oberst a.D. Burkhard Hering (525). Abweichend von dem in der Regel bei den Gesetzlosen vertreten gewesenen Typ des Strategen und höheren Truppenführers repräsentierte er den des Frontoffiziers. Gefragt, warum er nicht General geworden sei, pflegte er scherzhaft zu antworten, weil er nie weit genug hinter der Front gewesen sei. Seine Geradlinigkeit und absolute Offenheit zeigte sich auch darin, daß er nie ableugnete, ein begeisterter Anhänger des NS-Regimes gewesen zu sein. Es war auch glaubhaft, daß er, den Blick beschränkt auf das Militärische, der Kenntnis der Untaten des Regimes ermangelte. Sein offenkundiges Widerstreben, sie auch späterhin in ihrem ganzen Ausmaß zur Kenntnis zu nehmen, führte nicht selten zu kontroversen Diskussionen, die aber nie die gebotenen Grenzen überschritten und das Zusammensein beeinträchtigten. Sie beleuchteten andererseits auch bisher ungenügend herausgestellte Dinge, wenn er aus eigenem Erleben über Verbrechen gegen die Menschlichkeit an wehrlosen Deutschen im Ostraum berichtete. In seinem Buch „Ärmelstreifen Afrika“, das er auch der Gesellschaft dedizierte, zeichnet er ein lebensnahes Bild von den Drangsalen des Wüstenkrieges. Wohl das größte Abenteuer seines Lebens, das er nicht nur in der Zeitschrift „Die Oase“, sondern oft auch mündlich geschildert hat, war seine Flucht aus Afrika im Mai 1943. Als die Reste des Afrika-Corps - eine Viertelmillion Mann - auf engstem Raum auf der Halbinsel Kap Bon in Tunesien zusammengedrängt unmittelbar vor der Kapitulation standen, entschloß er sich mit einer kleinen Gruppe seiner Leute zur Flucht über See in einem kleinen völlig unzulänglichen Segelboot mit Hilfsmotor. Daß es gelang, die rund 200 km bis nach Sizilien in drei Tagen trotz Sturm und eines feindlichen Fliegerangriffs, der noch ein Todesopfer und vier Verwundete forderte, zu überwinden, grenzte an das Wunderbare. Für Hering hat diese erfolgreiche Flucht allerdings den weiteren Einsatz in Rußland mit anschließender Gefangenschaft bei den Sowjets bis 1950 zur Folge gehabt. Als er im Juni 1982 starb, beklagten die Gesetzlosen den Verlust einer besonders sympathischen Persönlichkeit von unverwechselbarer Originalität. Der Gesetzlose Bundesrichter Willy Röhrmann (543) hat leider nur kurz der Gesellschaft angehört und starb bereits 1976. Er war musikalisch sehr interessiert und hielt beim Jahresessen 1972 einen Vortrag über E.T.A. Hoffmann. Ein hier berichtetes Erlebnis verdient festgehalten zu werden. Röhrmann war befreundet mit einem Dolmetscher, der mehrfach herangezogen wurde, wenn Hitler hochrangige Italiener in Privataudienz empfing. Nach deren Ende pflegte Hitler den Dolmetscher, der auch hervorragend Klavier spielte, zu ersuchen, ihm die Barkarole aus „Hoffmans Erzählungen“ vorzuspielen, eine Lieblingsmelodie von ihm, die aber öffentlich als Komposition des Juden Offenbach nicht mehr gespielt werden durfte. Hitler äußerte dann dem Dolmetscher gegenüber die Absicht, nach dem siegreichen Ende des Krieges das Vorspielen doch wieder zuzulassen, allerdings unter Unterdrückung des Namens des Komponisten, also ähnlich, wie es bereits bei dem Lied über die Loreley hinsichtlich des Textdichters Heine üblich war.

Einen schweren Verlust erlitt die Gesellschaft im Oktober 1983 auch durch das Ableben von Curt Loehning (549). Von Beruf Verwaltungsjurist, nach Neigung Kunsthistoriker, Bibliophile und umfassend gebildeter Humanist, ging er dieser besonders nach seiner Pensionierung 1967 mit großer Intensität nach und entwickelte hierbei eine staunenswerte Produktivität. Nach der in der Fachwelt sehr beachteten Herausgabe und Kommentierung von Werken von Lessing, Justus Möser und Erasmus von Rotterdam widmete er sich später der von Klassikern der Antike, insbesondere Horaz, und noch am Abend vor seiner letzten schweren Erkrankung arbeitete er an der Übersetzung von Werken des jüngeren Plinius. Die Runde der Gesetzlosen profitierte viel von seinen profunden Kenntnissen auf allen geistesgeschichtlichen Gebieten; und unvergessen sind auch seine interessanten Berichte über die Erlebnisse seines Schwiegervaters, des Generals Wetzell, der im ersten Weltkrieg enger Mitarbeiter Ludendorffs im Großen Hauptquartier und später mehrere Jahre Leiter der Deutschen Militärmission bei Tschiang Kai-schek in Nanking war. Die in der von Wetzell mit vorbereiteten Offensive gegen Mao Tse-tung fast vollendete Einschließung der Kommunisten blieb infolge von Eifersüchteleien einiger chinesischer Unterführer Tschlangs unvollständig, was Mao den Ausbruch zu dem legendären langen Marsch ermöglichte und damit der Weltgeschichte eine andere Wende gab. Im hohen Alter von 92 Jahren verstarb im April 1984 der Senior der Gesetzlosen, General der Artillerie a.D. Fretter-Pico, der der Gesellschaft seit 1956 angehört hat und viele Jahre ein besonders interessierter und reger Teilnehmer an den monatlichen Treffen war, bis ihn körperliche Behinderung und die Unmöglichkeit, in Berlin eine Hilfe zu bekommen, zwangen, 1976 in ein Seniorenheim nach Kreuth bei Tegernsee umzuziehen. Der Name Fretter-Pico begegnete dem Chronisten, der als Angehöriger der Oberquartiermeister-Abteilung (FeldPost) der 6. Armee im November 1942 zu den wenigen außerhalb des Kessels von Stalingrad verbliebenen Versprengten gehörte, erstmals Anfang 1943, als der General den Auftrag erhielt, diese zu sammeln und zusammen mit ein paar eilig herangeführten Ersatztruppen die riesige Frontlücke notdürftig abzusichern. Während dieser dann aber alsbald eine neuen Einsatz erhielt, machte der Chronist die weiteren Rückzüge der neu aufgestellten 6. Armee bis nach Bessarabien mit. Hier wurde Fretter-Pico, dem am 17.7.1944 die Führung der Armee übertragen wurde, erneut sein höchster Chef, den er persönlich aber erst bei den Gesetzlosen kennenlernen sollte. Wie er in seinem Buch „ ... verlassen von des Sieges Göttern ... „ überzeugend darstellt, war Fretter-Pico angesichts der vielfachen sowjetischen Überlegenheit und der Unzuverlässigkeit der rumänischen „Verbündeten“ vor eine hoffnungslose Aufgabe gestellt. Der sowjetische Großangriff am 20.8.1944 und der Abfall der Rumänen führten zu einer Vernichtung der neuen 6. Armee, mit personellen und materiellen Folgen, die wenig hinter denen der Katastrophe von Stalingrad zurückstanden. Fretter-Pico war der gegebene Sündenbock und wurde als Oberbefehlshaber der 6. Armee abgelöst. über dieses und vieles andere hat er im Kreise der Gesetzlosen oft und interessant gesprochen, gewürzt zuweilen mit humorvollen Anekdoten, z.B. wie er gemeinsam als junger Leutnant mit dem etwa gleichaltrigen, später so populär gewordenen Rommel vor dem ersten Weltkrieg die Kriegsschule in Danzig besucht hat, und wie Rommel immer der Helfer in der Not war, wenn sie verspätet nach dem Zapfenstreich auf die verschlossene Unterkunft stießen, indem er dank seiner zierlichen Figur sich als einziger den Weg durch ein Toilettenfenster bahnen und von innen das Tor aufriegeln konnte. Auch sein Fortzug aus Berlin wurde sehr bedauert. Das Gleiche gilt für den Fortgang von Heinz Dietrich Stoecker (541) im Jahre 1972 als Botschafter nach Stockholm, nachdem er vier Jahre lang als Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Bevollmächtigten der Bundesregierung in Berlin tätig gewesen war. Auch er wußte kenntnisreich, beredt und amüsant über seine vielfältigen Erlebnisse im diplomatischen Dienst, besonders bei der Botschaft am Vatikan, zu plaudern. Mit tiefer Empörung nahmen die Gesetzlosen die Nachricht von dem verbrecherischen terroristischen Anschlag auf die deutsche Botschaft in Stockholm 1975 auf, den Stoecker nur durch eine für ihn glückliche Verkettung von Umständen lebend, wenn auch verletzt, überstanden hat. Der dramatische Bericht, den er einmal später bei einem Treffen in Berlin darüber erstattete, hat alle Teilnehmer tief berührt.

Um die Jahreswende 1982/83 hat die historische Forschung über das Leben zweier der bedeutendsten Mitglieder der Gesetzlosen aus der Gründerzeit, Schleiermachers und Hegels, neue interessante Aspekte ergeben. Im Zusammenhang mit einer kritischen Gesamtausgabe der Werke von Schleiermacher erbat sich die hiermit betraute Schleiermacherforschungsstelle Berlin, der die Verbindung Schleiermachers mit den Gesetzlosen bekannt war, die noch vorhandenen alten Anwesenheitsprotokolle aus den ersten Jahrzehnten nach der Gründung im vorigen Jahrhundert zur Einsicht. Auf der Ausstellung „Friedrich Schleiermacher zum 150. Todestag. Handschriften und Drucke“ anläßlich des internationalen Schleiermacher-Kongresses im März 1984 in Berlin wurden auch sie gezeigt und fanden großes Interesse. Ihre Auswertung erwies sich auch als viel fündiger als erwartet. Sie hat, in Verbindung mit anderen Materialien, Briefwechseln usw., zusätzlich das eigentümliche Verhältnis zwischen Schleiermacher und Hegel beleuchtet, die wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Gegner waren. Hegel strebte die Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften an und versprach sich von der Mitgliedschaft bei den Gesetzlosen, zu denen fast alle fahrenden Akademiemitglieder gehörten, eine Förderung hierbei. Schleiermacher dagegen, mit dem es bereits beim ersten Treffen bei den Gesetzlosen zu einem unerfreulichen Wortwechsel gekommen war, suchte sie zu verhindern. Hegel mußte sich alsbald davon überzeugen, daß er für seine Bestrebungen bei den Akademiemitgliedern keine Unterstützung fand, und er zog sich dann aus dem geselligen Kreis der Gesetzlosen zurück, in dem Schleiermacher die bestimmende Rolle spielte.

Von der Schleiermacherforschungsstelle neu ausgewertete Dokumente aus dem Archiv des Verlages Walter de Gruyter zeigen übrigens, wie Schleiermacher, der sich wie viele führende Geister seiner Zeit der Liberalisierung des Staates verschrieben hatte, in der Zeit der sogenannten Demagogenverfolgung nach den Freiheitskriegen staatlichen Bespitzelungen und Pressionen ausgesetzt war. Aus den Polizeiakten ergibt sich, daß er mehrfach nach Predigten denunziert und auch verhört worden ist. Er wurde aber im Gegensatz zu anderen, etwa Ernst Moritz Arndt, nicht aus dem Amt entfernt und mit der Verleihung des Roten Adlerordens III. Klasse im Jahre 1831 auch öffentlich rehabilitiert.

Die Festschrift zum 150-Jahr-Jubiläum klingt mit dem Wunsch aus, daß die Heutigen in einer Zeit, in der Wolken über Berlin hängen, nicht schlechter erfunden sein mögen als ihre gesetzlosen Ahnen. Die damaligen Wolken, herausgezogen nach dem Chruschtschow-Ultimatum Ende 1958, haben sich längst gelichtet. Die Lage Berlins ist nach der Konsolidierung des Ost-West-Verhältnisses ungleich gefestigter als vor 25 Jahren. Das schließt neue Krisen nicht aus. Eine Vereinigung aber, die jetzt 175 Jahre unbeschadet tiefgreifendster Veränderungen unseres Landes und unserer Stadt überstanden hat, hat damit die ihr innewohnende Lebens- und Anziehungskraft in so hohem Maße bewiesen, daß sie mit uneingeschränkter Zuversicht der weiteren Zukunft entgegensehen kann. Wenn das nächste Jubiläum begangen wird, werden die Heutigen, die dann Ahnen sind, von ihren Nachfahren gewiß nicht schlechter erfunden werden.


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Letzte Änderung: 20.05.2024
© Herbert Voß
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