wappen0.gif Die Gesetzlose Gesellschaft zu Berlin
Gegründet in Berlin am 4. November 1809

Die Geschichte der Gesellschaft - Teil IV


Hauptseite Die Sitzungen Statistik
Chronologisches Gesamtverzeichnis Vorträge
Alphabetisches Gesamtverzeichnis Verweise

Anfänge (1809-1810)
Aufstieg und Beharrung (1811-1840)
Unruhige Jahrzehnte (1840-1870/71)
Wandlung (1871-1918)
Festigung (1919-1933/34)
Post Nubila Phoebus (1934-1959)
Ergänzungen (1960-1984)
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Wandlung in kaiserlicher Zeit(1871-1918)

Nach Homeyers Tode wurde der Direktor in der Abteilung Bauwesen des Preußischen Handelsministeriums Lauchlan MacLean der Nachfolger des bisherigen Tyrannen. Es geschah in einer, die weitere Entwicklung andeutenden formlosen Weise. In der Versammlung vom 31. Oktober (1874), besagt das Protokoll, „brachte der P. Maclean, welcher seit der Erkrankung des Homeyer in dessen Vollmacht während der letzten Jahre sich der Leitung unterzogen hatte, die Beschlußnahme wegen Wahl eines neuen Monarchen in Anregung. Die Anwesenden - es waren außer MacLean nur sechs - nahmen aber davon Abstand und meinten, daß alles beim alten bleiben solle.“

Mit MacLean setzt sich die bis in den ersten Weltkrieg hineinreichende Reihe der Juristen-Zwingherren fort. Darin prägt sich schärfer die schon einmal berührte Tatsache aus, daß der Mitgliederkreis in der kaiserlichen Zeit sich zusehends auf Juristen, daneben Offiziere, einzuschränken beginnt, und zwar vorwiegend auf hohe Verwaltungsbeamte. jene Gelehrten-Sezession von 1863 hatte einen gewissen Einschrumpfungsprozeß vorbereitet. An Zwingherren begegnen uns nicht weniger als acht während der knapp 47 Jahre der neu-deutschen Kaiserzeit. Sehen wir von den beiden an deren Anfang und Ende - Homeyer und Timann - ab, weil ihre Herrschaftsjahre nur zum kleinsten Teil in jene Epoche fallen, so verteilen sich immerhin sechs Zwingherren auf 41 Jahre. Vielleicht ist die Deutung nicht gewagt, daß mit der in neue Bahnen weisenden Zeit auch in unserer Gesellschaft ein anderer Rhythmus zu schlagen beginnt. Wir glauben ihn auch sonst erkennen zu können.

Für kaum eine Zeit fließen die Quellen so dürftig wie für die 70er bis 90er Jahre und etwas darüber. Das Protokoll schweigt sich, abgesehen von der Anwesenheitsliste und der Nennung neuer Mitglieder, fast ganz aus. Die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zahlreichen Lebenserinnerungen, Biographien und Briefwechsel werden knapper und verlieren obendrein häufig an Gehalt. So lassen sich nur einige wenige Striche ziehen. Auch MacLean und seine nächsten Nachfolger bleiben, soweit wir nach ihrem menschlichen Wesen fragen, ziemlich schemenhaft. Mit MacLean, den Homeyer schon 1872 zum „Reichsverweser“ ernannt hatte, ergreift der Angehörige einer alten schottischen Familie, deren Feld hauptsächlich das Bankier-Gewerbe gewesen war, das Zepter. Ein seinerzeit nach Preußen ausgewanderter Zweig hatte sich auf dem Rittergut Scherpingen (Kreis Dirschau) festgesetzt. Ihm entstammte der 1855 eingetretene neue Zwingherr. Er war im preußischen Verwaltungsdienst 1848 als Vortragender Rat in das Handelsamt berufen worden, den Vorläufer des preußischen Handelsministeriums, dort aufgestiegen und 1863 zum Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat und Direktor in der Abteilung Bauwesen befördert worden. Ob und wie er der Gesellschaft ein eigenes Siegel aufgedrückt habe, läßt sich nicht sagen. Im Protokoll hat er nur die allernotwendigsten Angaben niedergelegt. Dagegen ist ein Zeugnis seiner Anhänglichkeit an die Gesetzlose erhalten in einem kurz vor seinem Tode, anscheinend auf dem Krankenlager mit ungelenken Zügen bedeckten Zettelchen. Damit „legirt“ er eine ihm seinerzeit von einem Freunde vermachte „goldene Schnupftabaksdose dem gesetzlosen Verein“. Er spricht die Hoffnung aus, „daß derselbe sie für jede Sitzung angemessen erfüllt (!) halten und sicher bewahren wird im rothen Futteral.“ Die Dose ist bis in den ersten Weltkrieg im Besitz der Gesellschaft geblieben.

MacLeans Tod hat seltsamerweise den Lauf der Zusammenkünfte nicht gestört. „Während die Gesellschaft versammelt war, wurde der Zwingherr MacLean bestattet“, heißt es im Protokoll vom 10.Mai 1879, wo allerdings nur zwei anwesende Mitglieder verzeichnet sind.

In Homeyers Sohn Georg, dem ersten geborenen Berliner unter den Zwingherren, fand sich bereits am 7. Juni der Nachfolger. „Einstimmig wurde der Unter-Staats-Secretair Homeyer als Tyrann der Gesellschaft proclamirt“. Er stand damals im rüstigsten Mannesalter und war bereits 21 Jahre Gesetzloser. Als junger Greifswalder Staatsanwalt war er vorher häufig Gast gewesen. Sein Weg führte ihn 1855 endgültig nach Berlin an das Polizeipräsidium und nach einem kurzen Kommissorium im Staatsministerium 1866 an das Handelsministerium. Dort war er seit 1867 Geheimer Regierungsrat und Vortragender Rat in der Abteilung Bauwesen unter MacLean. Ende Mai 1877 zum Ministerialdirektor aufgerückt, wurde er schon einen Monat später zum Unterstaatssekretär im Staatsministerium ernannt. Nach seiner Charakterisierung als Wirklicher Geheimer Rat mit dem Prädikat Exzellenz 1885 hat er dem „Reichsanzeiger“ zufolge hervorragende Begabung, vielseitige Kenntnisse, Zuverlässigkeit des Charakters gezeigt und noch fast 10 Jahre an höchst verantwortlicher Stelle gewirkt. Dem 70jährigen, der mit der ihm eigenen Regelmäßigkeit bis zur letzten Versammlung vor den längst üblich gewordenen Sommerferien am gesellschaftlichen Leben teilgenommen hatte, fiel das Todeslos fern von Berlin, in Luzern, am 1. Oktober 1894. Er wurde neben dem Vater auf dem Matthäi-Friedhof bestattet.

Wie und wann ihm der Nachfolger bestellt wurde, darüber schweigt sich das Protokoll aus. Am 13. Oktober waren die Zusammenkünfte wieder aufgenommen. Die Angaben über das nächste Beisammensein am 27. tragen schon die höchst charakteristischen Schriftzüge von Justizrat Riem. Er gehörte bereits 23 Jahre der Gesellschaft an. Der Berliner Professor der Anatomie und Zoologie Peters hatte den damaligen Rechtsanwalt und Notar am Kammergericht eingeführt. Im gleichen Jahre, das ihm die Zwingherrschaft brachte, zum Geheimen Justizrat ernannt, hatte er seit etwa einem Jahrzehnt nur noch das Notariat ausgeübt in einem der vornehmsten Viertel Berlins um die Matthäi-Kirche. Er hat auch Beziehungen zum Wirtschaftsleben unterhalten. Als die Abendausgabe der Vossischen Zeitung vom 4. Dezember 1899 seines in der Morgenfrühe erfolgten Todes kurz gedachte, hob sie seine Tätigkeit als Vorsitzender der Continental-Telegraphen-Comp. hervor. Knappe 5 Jahre hat die Gesetzlose in ihm den Zwingherrn verehrt. So rein sachlich-statistisch sich seine Angaben im Protokoll auch geben, eines zeichnet sie aus, die Lesbarkeit der Schriftzüge, die einen Mann höchster Ordnung erkennen lassen.

Auch diesmal wieder scheint die Nachfolge ohne besondere Formalitäten geregelt zu sein. Ein längst designiertes Mitglied rückte an die Stelle. Mit außerordentlich klaren Schriftzügen verzeichnet der neue Zwingherr, der zehnte in der Gesamtreihe, den Tod seines Vorgängers, und sie füllen dann von der nächsten Versammlung an, erst am 3. Februar 1900, die weiteren Seiten. Es war die Hand des schon vor fünf Jahren in den Ruhestand getretenen, jetzt 70jährigen Ministerialdirektors im Justizministerium Exzellenz Droop.

Die Gesetzlose hatte den im Jahre 1866 aus hannoverschen Diensten von Preußen übernommenen seit fast einem Vierteljahrhundert (1876) zu den Ihrigen zählen dürfen. Als damaliger Vortragender Rat im Justizministerium hatte er sich, seit 1869 in Berlin, bei der großen Justizreform Ende der 70er Jahre sehr verdient gemacht. Die wissenschaftliche Welt hat den bedeutenden Juristen geehrt, als die Universität Göttingen bei ihrem jubeltest 1887 ihm die Würde eines Dr. iur. h. c. verlieh. Es scheint ih in die Gabe reger gemeinschaftsbildender Tätigkeit eigen gewesen zu sein, und das ist unserer Gesellschaft in hohem Maße zugute gekommen. Es gab kaum ein Zusammensein, an dem er nicht teilnahm. So verhalten die Todesnotiz im Protokoll auch gefaßt ist, sie läßt doch ahnen, welcher Wertschätzung er sieh erfreute. „Am 7. Februar 1904 verstarb in Berlin unser hochverehrter Zwingherr, Herr Wirklicher Geheimer Rat Droop. Sein Andenken wird in Ehren bleiben.“

Die Zeilen stammen von dem am 9. April 1904 „als neuer Zwingherr bestimmten“ Hemptenmacher. Mit ihm war nach Homeyer II wieder ein geborener Berliner zur Würde erkoren, sofern wir nicht auch in Riem, dessen Geburtsort nicht zu ermitteln ist, einen Sohn der Spreestadt zu sehen haben. Hier hatte Hemptenmacher das Friedrich-Werdersche-Gymnasium besucht, hier nach Heidelberg die Universität. In der üblichen Verwaltungslaufbahn war er über eine kurze Tätigkeit bei der Ministerial-, Militär- und Baukommission 1882 als Assessor zur Potsdamer Regierung gekommen, seit 1886 Regierungsrat. 1887 war er zum Berliner Polizeipräsidium (Abteilung I) hinübergewechselt. Die Jahre 1891 bis 1894 hatten ihn dort als Dirigenten der Baupolizeiabteilung (III) gesehen. Dann war eine nur knapp dreijährige Arbeitszeit als Oberverwaltungsgerichtsrat gefolgt. Als solcher ist er 1896 Gesetzloser gcworden. Erst durch sein nächstes Amt wurde ihm die Aufgabe gestellt, die man als die seines Lebens bezeichnen darf: es war der neugeschaffene Posten des Ersten Staatskommissars bei der Berliner Börse. Vom 1. Januar 1897 bis 31. Dezember 1908 hat er ihn, zunächst als Geheimer Oberregierungsrat, seit 1907 als Wirklicher Geheimer Rat, inne gehabt und sich neben anderem Verdienst um die Ausführung des Börsen-Gesetzes erworben, zu dem er auch einen weit verbreiteten Kommentar herausgab. Mit unverhohlenem Mißtrauen waren die Berliner Börsenkreise dem staatlichen Kommissar gegenübergetreten. Es ist wahrscheinlich sein Nachfolger in der Gesetzlosen, Hermes, gewesen, der nach Hemptenmachers Tode in der Kreuzzeitung seine Leistungen gewürdigt hat. „Ohne das in der Form liebenswürdige, aber sachlich feste, von geschäftlichem Verständnis und rasch erworbener Sachkunde getragene Wesen des neuen Vertreters der Staatsaufsicht hätte es leicht zu einem Bruch kommen können, der von den Gegnern der neuen Einrichtung zu deren Diskreditierung ausgenutzt worden wäre. Die Erfahrung zeigte bald, daß die Regierung bei der Auswahl der Persönlichkeit den richtigen Griff getan hatte. Es gelang Hemptenmacher rasch, seiner Stellung volle Autorität zu verschaffen.“

Als der erst 56jährige Ende 1908 den erbetenen Abschied erhielt, fiel ihm das Los zu, der deutschen Wirtschaft als Vorstandsmitglied der Commerz- und Disconto-Bank in Hamburg-Berlin seine Dienste zu leisten. Auch hier war ihm freilich, wie bei all seinen früheren Tätigkeiten, abgesehen von dem Börsenkommissariat, eine kurze Frist bemessen. Hemptenmacher ist schon am 18. November 1912 gestorben. Auch seine sterbliche Hülle nahm wie die Homeyers der alte Matthäi-Friedhof auf. Die 7 1/2 Jahre seiner Zwingherrschaft haben das gesellschaftliche Leben der Gesetzlosen in hohem Maße gekräftigt. Alle Anzeichen schienen gegeben, daß der Auftrieb unter seinem Nachfolger anhalten würde. jedenfalls schien die hervorragende Persönlichkeit von Justus Hermes volle Gewähr zu bieten. Er stammte aus einer alten märkischen Pastoren- und Beamten-Familie. Im uckermärkischen Boitzenburg war er als Sohn des dortigen Kreisrichters zur Welt gekommen. Seit 23 Jahren war er in der Gesetzlosen heimisch, der schon sein Vater, inzwischen zum Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats aufgestiegen, angehört hatte. Hemptenmacher, ihm mehr und mehr Freund geworden, hatte den damaligen Geheimen Oberregierungsrat eingeführt. Hermes war bei Hemptenmachers Tode das älteste Mitglied, und so widmete er am 14. Dezember 1912 „der Erinnerung an den verstorbenen Zwingherrn herzliche Worte schmerzlicher Erinnerung unter allgemeiner teilnehmender Zustimmung'. Am Schlusse des Abends wurde er zum Zwingherrn berufen und nahm dankend an'.

Er war damals bereits aus dem Staatsdienst ausgeschieden. Nach kurzer Tätigkeit in der Justiz hatte er 22 Jahre bis zu dem erbetenen Abschied am 1. April 1905 im Landwirtschaftsministerium gewirkt, seit 1900 als Ministerialdirektor. Politisch, sozial und kirchlich stark interessiert, war er der Rechte, um nach seiner Pensionierung die Geschäfte des Chefredakteurs der Preußischen Kreuzzeitung zu übernehmen. Bis 1912 hat er sich der Presse gewidmet, auch als Vorsitzender des Reichsverbandes der Presse. Welcher Art er war, läßt sein „Abschiedswort“ in der Kreuzzeitung erkennen, als er die Chefredaktion aufgab. Er betont darin die Aufgabe, als Konservativer eine positive Stellung zu der neuen Ordnung der Dinge einzunehmen, einen „weisen, jeder Reaktion in trivialem Sinne abholden Standpunkt“. Er hebt weiter das Preußentum hervor, nicht im Sinne des Partikularismus. Er weist auf Vorbilder wie Stein, Hardenberg, Blücher, Scharnhorst, Moltke hin, die alle keine Preußen waren. In einer kurzen Abrechnung mit dem Liberalismus, dessen Vertreter nach Erreichung der 48er Ziele sich „weiter nach links entwickelt“ hätten, bedauert er die Erschütterung des Autoritätsgefühls, „weil zunächst möglichst schrankenlose Entwicklung des Individuums gefordert wird und die Rücksichten des menschlichen Gemeinschaftslebens in seinen organischen Bildungen des Staates, der Familie, der Berufs- und Standesgemeinschaft für den Liberalismus erst in zweiter Linie stehen“. Zum Schluß weist er auf Preußens deutschen Beruf hin. Er „darf nicht darin bestehen, daß es darauf verzichtet, Herr im eigenen Hause zu sein“.

Hermes darf als das Muster eines preußischen Beamten gelten. Mit Geradheit des Charakters verband er einen scharfen Verstand und warmes soziales Empfinden. Die Gesetzlosen sahen ihn nur knapp 4 Jahre an ihrer Spitze. Noch am Abend vor seinem Tode hatte er „frisch und lebendiger eine Vorlesung gehalten an der Landwirtschaftlichen Hochschule, wo er seit 1913 eine Honorardozentur für Verwaltungskunde inne hatte. In der Nacht vom 25. zum 26. März fällte ihn der Tod nach kurzem Kampf. Wie man ihn in der Gesellschaft sah, hat sein Nachfolger Timann bezeugt, als er dem erst 61jährigen, „dem jüngsten der Mitglieder fast“, am 5. März 1915 den Nachruf hielt. „Seine Bedeutung für das politische und soziale Leben kam für uns erst in zweiter Linie. Uns interessierte vor allem der Mann, die ganze in sich selbst geschlossene Persönlichkeit. Reich an Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, die er sich in seiner langen Dienstzeit und vor allem in seiner publizistischen Tätigkeit durch regen Verkehr mit bedeutenden Männern und Frauen des In- und Auslandes erworben hatte, reich an vielseitigen Kenntnissen auf allen möglichen Gebieten, reich auch vor allem an Herzenswärme, überzeuguno,streue, großer Ausdauer und Gewissenhaftigkeit, war er ein sehr gern gesehenes, belebendes Element der Unterhaltung, interessant und liebenswürdig. „Begraben wurde er auf dem Dom-Friedhof im Norden der Stadt in der Müllerstraße. Damit nehmen wir von den Zwingherren der kaiserlichen Zeit Abschied. Hermes’ Nachfolger Timann, der im Anschluß an jene Erinnerungsstunde „gewählt und bestätigt® wurde, werden wir erst in der folgenden Epoche zu würdigen haben, reichen doch seine Herrschaftsjahre bis 1931.

Ein so kräftiger Pulsschlag auch vor dem Weltkrieg die Gesellschaft belebte, in den Anfängen der kaiserlichen Epoche war es damit ganz anders bestellt gewesen; denn unzweifelhaft stockte in den 70er, 80er und 90er Jahren das Leben der Gesetzlosen im Vergleich zu früheren Zeiten. Der Mitgliederzustrom ging auf ein ganz geringes Maß zurück. Unter den drei Zwingherren MacLean, Homeyer II und Riem, d.h. 1874-1899, in 25 Jahren, schlossen sich nur 17 neue Mitglieder an. Gelegentlich häuften sich völlig unfruchtbare Jahre, z. B. 1887-1889. Während der nächsten drei Zwingherrschaften setzte dann ein sehr beachtlicher Anstieg ein, vor allem unter Hemptenmacher. In 15 Jahren, 1900-1915, fanden sich 43 neue Mitglieder ein. Unter den Neuen der kaiserlichen Zeit überwiegen, wie schon oben gesagt, die Verwaltungs-Juristen. Da sind zunächst zwei Räte im Justizministerium, der schon genannte Droop (1876), der spätere Ministerialdirektor, und Rindfleisch (1876), der spätere Staatssekretär, dieser besonders verdient um die Reichsjustizgesetze von 1879 und den gebildeten Kreisen bekannt geworden durch seine ausgezeichneten „Feldbriefe 1870/71“, weitere Räte des Finanzministeriums, z.B. von Pommer-Esche (1885), Hermes (1898) vom Landwirtschaftsministerium, von der Leyen (1914) und Stieger (1916) vom Ministerium der öffentlichen Arbeiten. Erst ziemlich spät erscheinen Angehörige der in der jungen Reichshauptstadt errichteten Reichsbehörden: als erster der damalige Geheime Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern Caspar (1901). Aus dem Reichspostamt kam dessen Staatssekretär Kraetke (1909), aus dem Reichsjustizamt, doch erst nach der Pensionierung, Lisco (1917), ein echter Berliner und Enkel des Bischofs Neander (1831). Auch das Reichsaufsichtsamt für Privatversicherung wäre in diesem Zusammenhang zu nennen, aus dem als erster Präsident Gruner (1912) zur Gesellschaft fand. Als Kurator der Universität Göttingen hatte sich der Geheime Oberregierungsrat Dr. von Meier zuletzt betätigt (1896). Dem um die hannoversehe Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte verdienten früheren ordentlichen Professor für Staats- und Verwaltungsrecht in Halle sind gerade während seiner gesetzlosen Zeit weitere Lorbeeren erwachsen: durch seine Forschungen über den Freiherrn vom Stein und dessen (von Meier abgelehnte) Beeinflussung durch Ideen der französischen Revolution. An die Übung frühester Jahrzehnte der Gesellschaft erinnert die Mitgliedschaft zweier Männer des Bergfaches. Es sind der Wirkliche Geheime Rat und Berghauptmann a.D. Frhr. von der Heyden-Rynsch (1901) und der von ihm 1906 eingeführte Oberberghauptmann von Velsen, beide längst im Ministerialdienst. Einer sonst kaum vertretenen Gruppe gehört in kaiserlicher Zeit wenigstens eine so bedeutende Persönlichkeit wie der langjährige Landrat von Niederbarnim, Scharnweber (1876) an. Der Landrat Rötger (1913) war damals schon a.D., ebenso der ehemalige Landrat von Goeschen (1916). Von Scharnweber heißt es im Protokoll bei seiner Aufnahme: „Sein unmittelbarer Hang zur Gesetzlosigkeit ist durch sämtliche Behörden, mit denen das geehrte Mitglied jemals in Berührung gekommen, wie durch das Publikum bezeugt.“ Neben diesen Verwaltungsjuristen heben sich einige Richter heraus, vertreten vor allem durch die Präsidenten des Kammergerichts von Oehlschläger (1886), von Schmidt (1906), der vom Landgerichtspräsidenten in Halle so erstaunlich aufrückte, und Heinroth (1913), ein alter Hannoveraner. In den Romanen seiner unter dem Namen Claus Rittland schreibenden Frau, einer Schwester Rindfleischs, durchweg Schlüsselromanen, würden vielleicht auch Mitglieder der Gesetzlosen zu finden sein. Von den Genannten hat sich Heinroth am regsten und längsten an der Gesellschaft beteiligt. Auch der als Kommentator der Zivilprozeßordnung bekannte Senatspräsident am Kammergericht Busch (1879) ist zu nennen. Demgegenüber verschwinden die früher häufig in der Gesellschaft heimischen Kammergerichtsräte bis auf etwa zwei Ausnahmen. Der Oberlandesgerichtspräsident von Hagens (1913) ist erst nach seinem Übergang in den Ruhestand einer der Unsrigen geworden. Schließlich ist unter den Juristen Ule (1917) zu erwähnen, ehedem ein fast ausschließlich in Zivilsachen tätiger, hoch angesehener Rechtsanwalt. Im Begriff, sich von seiner Praxis zurückzuziehen, trat er auf Wunsch des Justizministers an die Spitze der Justizprüfungskommission. In der Person von Bode (1833)hatte geraume Zeit früher schon einmal der Vorsitzende dieser Kommission den Gesetzlosen angehört. Mit dem Generalauditeur der Armee Fleck (1861) verbindet sich ein Vertreter der Militärgerichtsbarkeit mit der Gesellschaft, wie es in den Anfängen durch Friccius (1822) geschehen war. Des weiteren bereichern einige Diplomaten das Bild, z. B. der Wirkliche Geheime Legationsrat E. v. Billow (1876). Im gesellschaftlichen Leben Berlins hat zeitweilig der Herzoglich-Braunschweigische Gesandte Freiherr von Cramm-Burgdorf (1898) eine Rolle gespielt, neben ihm der Gesandte z.D. von Braunschweig (1905) und der Botschafter a.D. von Holleben (1904).

Eine kräftige Färbung erhält die Gesellschaft durch das militärische Element, vor allem durch den Oberstleutnant Litzmann (1894), der sich im ersten Weltkrieg einen Namen gemacht hat, ferner den Generalleutnant von Kries (1907), den General der Kavallerie a.D. von Kuhlmay(1908) und Generalleutnant von Zwehl (1912). Natürlich suchen wir in der Gesetzlosen nicht vergebens nach Angehörigen der Waffengattung, der erst jetzt nach vorübergehender Existenz 1848 ff. der Aufstieg bestimmt war, der Flotte. 1873 war der erste Marineoffizier, der Vizeadmiral Jachmann, in unsern Kreis getreten. Er hatte 1864 die preußische Flotte in der Ostsee befehligt und damals der dänischen Flotte ein Treffen bei jasmund geliefert. Im deutsch-französischen Kriege unterstand ihm die Nordseeflotte. Erst seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts sind ihm andere Glieder der Marine gefolgt, bis zum Ende der kaiserlichen Zeit 7 Admirale und Vizeadmirale, als vornehmster nach seinem Ausscheiden aus dem Amt der Großadmiral von Tirpitz(1916). Politisch wie er ist ein Jahr hernach der Kapitän zur See a. D. Widenmann eingetreten, sein getreuester Anhänger, der als Marine-Attache in London Tirpitz Politik nicht unwesentlich unterstützt hatte. Bis auf wenige entbehrt die Gesetzlose in dem in Frage stehenden Zeitraum der Gelehrten. Nach dem Römischrechtler der Berliner Universität Bruns (1862), und dem Theologen Dorner (1864) lenkt erst nach 18 Jahren wieder ein Professor seine Schritte zu den Gesetzlosen, der Verwaltungs- und Kirchenrechtler Huebler (1882). Aber fast kann man ihn zu den Beamten des im übrigen damals ganz ausfallenden Kultusministeriums zählen, denn dort hatte er neben seiner Privatdozentur als Hilfsarbeiter für kirchenpolitische Angelegenheiten und von 1872-1891 als Vortragender Rat gewirkt. Nach ihm klafft wiederum eine große Lücke bis zum Eintritt des Archäologen Freiherrn von Hiller-Gärtringen (1910). Alfred von der Leyen (1914), einer der markantesten, beliebtesten und eifrigsten Gesetzlosen jener Tage, eine sehr aufgeschlossene Persönlichkeit, ist zwar seit 1912 als Honorarprofessor für Eisenbahnrecht an der Berliner alma mater tätig gewesen, doch kam er wohl mehr als ehemaliger langjähriger und zu höchsten Ehren aufgestiegener Vortragender Rat im Eisenbahnministerium zur Gesellschaft. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen begegnet als Gelehrter nur der in Beredsamkeit und geistiger Anregung freilich einzigartige, geborene Schweizer, der Professor für deutsches und Kirchenrecht Ulrich Stutz (1926), und der gelehrte Schulmann Johannes Kirchner (1927), ein Balte.

Aus der Geistlichkeit stellen sich zwei neue Mitglieder ein, es sind freilich sehr eigen geformte, der Feldpropst Dr. Thielen (1874) und der langjährige erste Geistliche an der Matthäikirche D. Theodor Braun (1900), der Generalsuperintendent der Neumark und der Niederlausitz. Zusammen mit Thielen hatte der Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats Dr. Herrmann Eingang gesucht. Ein alter Gesetzloser, Dorner, Vermittlungstheologe durch und durch, hatte ihn eingeführt. Herrmann war ein Vorkämpfer evangelisch-kirchlichen Verf assungslebens und hatte, in der liberalen Aera Falk ins Amt berufen, als Jurist das lange verschleppte Werk der preußischen Kirchenverfassung kräftig gefördert. Er ist aber nicht lange in unserem Kreis geblieben. Im Verlaufe innerkirchlicher Wirren, des Apostolikumsstreits, in den u. a. der Vater des späteren Gesetzlosen Lisco verwickelt war, ist Herrmann durch die Macht der Orthodoxie aus dem Amt gedrängt worden.

Auch die kaiserliche Zeit hat den Mangel ärztlicher Mitglieder nicht beseitigt. Nur ein einziges, der Geheime Sanitätsrat Schmidtlein (1912), begegnet uns. Der Eintritt des großen Gynäkologen von Olshausen scheint im Protokoll unter dem 4. Februar 1911 irrtümlich gebucht zu sein. jedenfalls ist der Name in der regelmäßig geführten Mitglieder-Zugangsliste am Anfang des Protokollbuches gestrichen worden und Olshausen, von Herrn von Meier eingeführt, nur einmal als Gast vor jener Eintragung nachweisbar.

Dagegen entsendet das mächtig aufstrebende Wirtschaftsleben einige Vertreter: Die Präsidenten der Preußischen Central-Boden-Credit-AG Klingemann (1900) und von Klitzing (1908) und einen Berliner Industriellen, den Kommerzienrat Schuchardt (1911). Ebenso ist Hemptenmacher (1896), wenn auch als Oberverwaltungsgerichtsrat zu uns gekommen, dieser Gruppe zuzurechnen, wie oben bereits angedeutet. Der Geschäftswelt scheint der Rentner Böninger (1907) angehört zu haben, den ein ehemaliger Minister einführte. Denn im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts füllt eine Reihe von Ministern die an sich vorhandene Schar der Exzellenzen auf. Aus ganz anderer Wurzel erwachsen, geriet die Gesetzlose Gesellschaft gegen Ende der kaiserlichen Zeit in den Ruf eines geradezu exklusiven Klubs. Da ist zunächst der ehemalige Justizminister von Schönstedt (1906) - als dritter in der Reihe „gesetzloser“ Justizminister nach v. Savigny (1810) und Uhden (1839). Im gleichen Jahre wie der Justizkollege tritt der ehemalige Handelsminister von Moeller (1906) ein; kurz darauf folgen der ehemalige Landwirtschaftsminister Freiherr Lucius von Ballhausen (1908), der schon einmal erwähnte Staatssekretär des Reichspostamtes Kraetke (1909). Mit dem vorletzten Kgl. Preuß. Finanzminister Lentze (1916) endet diese Reihe.

Nach wie vor - und damit mag diese Übersicht über die Berufsschichtung der Gesellschaft enden - hat das kommunale Beamtentum der Reichshauptstadt zur Gesellschaft nicht wieder zurückgefunden, nachdem es in den Anfangsjahrzehnten -- wenn auch in geringem Maße -- vertreten war. Der ehemalige Kölner Oberbürgermeister von Becker (1914) ist als Vizepräsident des Herrenhauses zu uns gekommen und wurde auch nur als solcher im Protokoll geführt. So vielschichtig nach der juristischen Seite die berufliche Zusammensetzung während der kaiserlichen Zeit auch erscheint, der Kreis, der sich bisher zusammenfand, ist bis fast zur Jahrhundertwende doch recht klein gewesen. 1874 versammelte sich am 18. Juli z. B. eine „sehr kleine, aber sehr gewählte Gesellschaft“ von drei Mitgliedern ("böslich abwesend Riem"). In der folgenden Sitzung vom 1. August kam eine „noch kleinere und noch gewähltere Gesellschaft“ zusammen, d. h. 2 Personen ("böslich abwesend Dorner"). Mehr als 4-6-8 versammelten sich in den berührten Jahrzehnten kaum, 10 Personen galten noch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts als höchst bemerkenswert. So wird in solchem Falle 1907 einmal „zur allgemeinen Freude und Genugtuung festgestellt, daß eine gleich zahlreiche Beteiligung wie heute seinerzeit am 28. April stattgefunden hatte. Die Gesetzlosen freuen sich dieses Kraftbeweises und erwarten (eine Anspielung auf die damalige Politik) für die Zukunft des Blockes das Beste. Erst seit Beginn des neuen Jahrhunderts, vor allem aber seit dem Weltkriege, zog die Gesellschaft fast durchweg mehr Teilnehmer an. Sie wurde nun, wie in ihrer frühesten Zeit, offenbar zur Stätte angelegentlichen Gedanken- und Nachrichtenaustausches.

Aus dem meist kleinen Kreis darf man von vornherein auch auf einen Gästeschwund schließen. Er steht im völligen Gegensatz zur früheren Übung. Oftmals blieben die Gesetzlosen ganz für sich, so z.B. 1897 monatelang. Es begannen auch wirkliche Berühmtheiten unter den Gästen zu fehlen, wie es z. B. noch 1867 mit dem von Homeyer veranlaßten Besuche des „außerordentlichen Gesandten und Bevollmächtigten Ministers der Vereinigten Staaten von America“ Geo. Bancroft, eines auch als Geschichtsschreiber seines Landes bedeutenden Mannes, der Fall war. Gelegentlich stellten sich Parlamentarier ein, wie sie schon 1848 Häufig anzutreffen waren. 1859 und 1864 war, was nachgetragen werden muß, ein Mann von so starkem politischem Schwergewicht wie Peter Reichensperger, der spätere Mitbegründer der Zentrums-Partei, zu Gaste. Läßt seine Anwesenheit den Schluß zu, daß, wie auch sonst erkennbar, politischer Einengung in dem wesentlich aus preußischen Beamten gebildeten Kreise vor 1870 nicht Raum gegeben war, so treten liberale Elemente auch noch zu Beginn der kaiserlichen Zeit deutlich hervor. Da ist etwa der Kabinettsrat Dr. Brandis. 1871 von Ernst Curtius zur Mitgliedschaft geführt, weisen beide auf die freiheitlich gesinnten Kreise um das Kronprinzenpaar hin. Als Vorstand des Kabinetts der Königin hatte Brandis ehedem den Männern der neuen Ara nahegestanden. Mit dem 1874-1876 mehrfach als Gast anwesenden Reichstagsabgeordneten, dem Danziger Stadtrat Rickert, bewegt sich im Kreise der Gesetzlosen ein Angehöriger des linken Flügels der National-Liberalen, nach dessen Sezession ein Mitbegründer der Deutsch-freisinnigen Partei. Aber das sind Ausnahmen. Im großen ganzen waltet in der Gesetzlosen während der kaiserlichen Zeit zunehmend ein Konservatismus, wenn es auch nicht der einstige der Hochtories vom Schlage der Gebrüder von Gerlach gewesen ist. Damit soll nun aber keineswegs ein politischer Gesamtcharakter der Gesellschaft gezeichnet, nur eine Grundstimmung der meisten Mitglieder soll angedeutet werden. An Gästen fand sich im übrigen hier und da ein, was auf irgendwelche Weise mit den Gesetzlosen in Berührung gekommen war und von diesen geladen wurde. In bunter Folge seien beispielsweise aus den 70er und 80er Jahren genannt: der angesehene Berliner Anwalt Justizrat Stubenrauch, der Vater des späteren Teltower Landrats, ferner der Vortragende Rat im Kultusministerium, der spätere dortige Minister Bosse oder Prof. Knapp aus Straßburg, der sehr viel später der Schwiegervater von Theodor Heuß wurde. Einmal (1876) besuchte die Gesetzlose zusammen mit „ dem Kanzler des Königreichs Preußen“, Dr. von Gossler, dem Präsidenten des Oberlandesgerichts in Königsberg und Vater des späteren Preußischen Kultusministers, der Oberst und Kommandeur des 6. Westfälischen Infanterie-Reg. in Detmold, von Seeckt. Es ist der Großvater des Chefs der Heeresleitung zur Zeit der Weimarer Republik. Und 1879 erklingt an der Tafel der Name eines Gesetzlosen, der vor langen Jahrzehnten der Gesellschaft zur besonderen Zier gereicht hatte: „Dr. von Klenze aus Weihenstephan in Bayern“. Dessen Großoheim war der Historiograph der Gesellschaft von 1834 gewesen.

Von Einzelheiten des geselligen Lebens in der fraglichen Zeit sind nur wenige überliefert. Es bedarf keiner Erwähnung, daß mit dem steigenden allgemeinen Wohlstand auch die Tafel der Gesetzlosen reicher besetzt wurde. Einmal gingen die Wogen der Freude so hoch (März 1894), daß der Zwingherr Homeyer Anlaß fand, es zu protokollieren: „Herr Geh. Justizrat Riem spendete einen Abschiedstrunk (für ein nach auswärts übersiedelndes Mitglied), der allen, die ihn genossen, unvergeßlich bleiben wird. Götter nennen ihn Nektar, Menschen Rauenthaler“. Riem fügte mit seiner gestochenen Handschrift hinzu: 1874er. Aber die Redelust konnte auch versiegen, wie am 15. April 1911. „Die drei Gesetzlosen mit ihrem Gaste gingen beim Kaffee zum Skat über. Vorgang nicht ermittelt!“. In der Tat, hier springt der Unterschied zwischen der Geselligkeit um 1900 und jener der Überaus gesprächsfrohen Gründungszeit geradezu in die Augen.

Dementsprechend wurde auch das alte Ritual der Gesetzlosen nur zum Teil gewahrt. Noch 1878 hatten die „Kurfürsten sive Vorwähler“ ihr siebendes Amt geübt, ehe die Mitglieder schriftlich über die Aufnahme des Vorgeschlagenen abstimmten. Zwölf Jahre später war der Neueintritt bereits erleichtert. über den mitgebrachten Gast wurde in der folgenden Sitzung mündlich abgestimmt. Weitere Vereinfachung bedeutete es, daß der Gast als Mitglied betrachtet wurde, sofern sich kein Widerspruch erhob. Von „Anerkennung“ in dem alten Buttmannschen Sinne ist keine Rede mehr. Mitglieder werden „aufgenommen“ oder „ernannt“. Seit Ende September 1911 suchte der durch häufigen Wechsel manche Ungelegenheiten bereitende Bote nicht mehr jeden Gesetzlosen vor jeder Zusammenkunft auf, um ihm die formelhaften Einladungen zur Unterschrift in einer der Spalten Aderunt oder Viderunt vorzulegen. „Die Einladungen besorgt die Reichspost, die Arbeit natürlich der Zwingherr. Dafür erhebt er eine Umlage.“ Der Buttmanns-Tag Anfang Dezember scheint auch in dieser Periode, wie in der vergangenen, die alte festliche Form nicht durchgängig bewahrt zu haben. Das Protokoll erwähnt ihn nur einmal 1917. Die innere Beziehung zu dem seltenen Manne ist jedoch gerade im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts rege gepflegt worden, und und zwar über seine Nachkommen. Bis 1901 lebte sein ältester Sohn Philipp, lange Zeit Pfarrer an der Pauls-Kirche auf dem Gesundbrunnen, seit 1836 Gesetzloser. Aus seinen Händen war schon 1894 die noch heute erhaltene Fotografie eines Ölbildes des Vaters an die Gesellschaft gelangt. jetzt knüpften Enkel und Urenkel das Band fester, als sie in unsere Reihen traten: 1910 der Marinebaumeister, spätere Marinebaurat Karl Rudolf Buttmann, 1911 der Oberst a.D. Hugo Buttmann, 1917 Hugo Buttmann jun., der aber wohl irrtümlich vom Zwingherrn einmal als Professor bezeichnet wird. Das Berliner Adreßbuch nennt ihn Sprachlehrer. Das einzige Mal, da er in der Gesellschaft erschien, verlieh er dem Tage eine besondere Weihe. Es war die Buttmann-Feier vom 5. Dezember 1917. Er gab den genau vor 100 Jahren dem Ahnherrn von der Gesellschaft gestifteten silbernen Pokal an sie zurück. „Nach dem Rechte der Erstgeburt zum Hüter des kostbaren Erbstücks bestimmte“, so erklärte er in einer Tischrede, die die Verdienste des Ahnherrn würdigte.

Wechsel und Wandel, wie sie durch die in einem bis dahin unerhörten Wirtschaftstempo vorwärts drängende Zeit bedingt waren, zeigten sich auch in den Orten der Zusammenkünfte. Man hatte keine Muße mehr, im Sommer nach dem Tiergarten hinauszupilgern. So wurde Kroll, wie wir schon hörten, Mitte der 70er Jahre aufgegeben. Das Restaurant von Langlet, Unter den Linden 16, das Herbst 1872 an die Stelle des nicht mehr aufnahmebereiten Englischen Hauses getreten war, wurde nun das ständige Quartier. Dort blieb man anscheinend bis Anfang der 90er Jahre. 1891, am 3. Januar, vereinte man sich „zum erstenmal in dem neuen Lokal Unter den Linden 27“, das Aimée, der bisherige Koch von Langlet, führte. Als er 1895 die Pforten schloß, wurde nach einmaligem Besuch des Kaiserhofes seit dem 23. November 1895 das „Grand Restaurant Royal“, Unter den Linden 33, gewählt, „in welchem der Wirt Riebenstahl mit rühmenswerter Aufmerksamkeit für die Behaglichkeit seiner Gäste sorgte“. Das Lokal ging Mai 1909 ein. Die Gesetzlose ist nie wieder zur preußischen via triumphalis zurückgekehrt, in deren geschichtsreichen Häusern ihr 100 Jahre hindurch, wenn auch mit Unterbrechung, bald hier bald da die Stätte bereitet war. Von hier aus verpflanzte man nun die alte Tradition in das damals hochmoderne Savoy-Hotel, Friedrichstraße 103, zwischen dem Bahnhof Friedrichstraße und der Weidendammer Brücke, bis im Mai 1913 das Hotelrestaurant Bellevue an der Ecke der Bellevue- und damaligen Königgrätzer, heute Friedrich-Ebert-Straße, gewählt wurde. 1916 war man dann für lange Jahre bei Trarbach in der Kantstraße neben dem ehemaligen Theater des Westens gelandet. Die bis Januar 1873 eingehaltene Essensstunde, 15 Uhr, wurde damals auf 16, später 16 1/2 Uhr, gelegt. Ende 1913 beschloß man, sich von jetzt ab um 19 Uhr zu treffen, an jedem zweiten und vierten Sonnabend im Monat.

Im Savoy-Hotel ist nun unter Hemptenmachers Leitung das l00jährige Bestehen am 6. November 1909 gefeiert worden. Der Zwingherr hatte selbst die durch einen Boten ausgetragene Gesamteinladung geschrieben, in der normwidrigen Form des zweiteiligen Bogens, weil sie weit mehr enthalten muß als die seit hundert Jahren in der üblichen Form ergangenen Einladungen. Vorerst sei jeglicher ermahnt, ernstlich mit sich zu Rate zu gehen, ehe er den Entschluß fasse, ob er seinen Namen unter die Überschrift Aderunt oder unter Viderunt schreiben solle, denn unser Streben soll auf ein möglichst vollzähliges Zusammenkommen bei der Jubiläumsfeier gerichtet sein. Selbstverständlich halten wir den Grundsatz der Gesetzlosigkeit dennoch hoch und jeglicher kann seinen Entschluß über Kommen und Nichtkommen bis zum Tage der Tat ändern, so oft es ihm beliebt. Er mag es dann nur sagen! Sodann muß in diesem außerordentlichen Falle zu einer Umlage geschritten werden, um die Kosten der Festschrift, in deren Besitz ein jeglicher geschätzt wird, zu bestreiten. Zu diesem Zwecke wird der Bote bereit sein, den Betrag von 10 M (zehn Mark) in Empfang zu nehmen. Wer zahlt, vermerke dies, indem er seinem Namen hinzufüge: ‚bez.’

Nun also!

Auf dem anhängenden zweiten Blatt haben sich die Mitglieder in einer der beiden Spalten eingetragen. Von den 25, mit denen die Gesetzlose in das zweite Jahrhundert ging, sind achtzehn der Einladung gefolgt. Es war eine - „gesetzlos“ gesehen - junge Schar. Die überwiegende Mehrheit war bei eigenem hohen Lebensalter erst seit drei Jahren und weniger in der Gesellschaft. Damit bot diese Feier gegenüber den früheren Jubiläen ein abgewandeltes Bild. Sie verlief „in vollkommen gesetzloser, also harmonischer Weise“. Genaueres kann der Chronist freilich nicht melden, doch mag die auf uns gekommene Speisekarte wenigstens die kochkünstlerischen Genüsse ahnen lassen:

Caviar
Geflügelcreme
Seezungenfilets a la Marguery
Prager Räudierzunge mit Gemüsen
Poularde mit Trüffelpuree
Salat - Compott
Souflé Mikado
Käse
Obst.

Als ein wichtiges Zeugnis hat die Festschrift zu gelten. Sie entstammte der Feder des von Hemptenmacher kräftig unterstützten Ernst v. Meier. Damit hatte der Zwingherr für diese schöne Aufgabe eine der markantesten und sympathischsten Persönlichkeiten der damaligen Gesellschaft gewonnen, doch hat sein lebensprühendes Temperament keinen Niederschlag in der Schrift gefunden. Auf 44 Seiten wurde nach einer kurzen Einleitung ein Überblick über die Zwingherren, die Mitglieder, die Gäste und das Lokal gegeben, dem auf weiteren 22 Seiten 6 Beilagen, Neudrucke wichtiger Quellen und ein Mitgliederverzeichnis folgten.

Nach noch nicht fünf Jahren war die Gesellschaft unter dem Donner des Weltkrieges nahezu verstummt. jetzt mochte sie an ein gemeinschaftliches Mahl, „wie es dereinst vor 100 Jahren geschehen war“, nicht denken, um so mehr versuchte sie jedoch den Zusammenhang der Mitglieder zu wahren. Man kam überein, sich an jedem Freitag, 18 1/2 Uhr, ab Ende 1915 20 Uhr („aus Rücksicht auf die Nikolasseer“) „bei Trarbach Nachf. (Kurfürstendamm 19), zu einem Glase Wein in traulicher Runde zu versammeln. Der Besuch war sehr rege“. Die vom 19. März 1915 an geführten Namenslisten bestätigen es: 10 und mehr, gelegentlich sogar 20, dazu Gäste, fanden sich ein. Der Mitteilungswille und das Anlehnungsbedürfnis wurden auch in dieser Notzeit lebendig. Die tatkräftige und gewinnende Art des neuen Zwingherrn Timann hat sicher ein übriges getan. Gelegentlich ist natürlich auch schwächerer Besuch festzustellen. Es veranlaßte den Zwingherrn zu der Bemerkung im Protokoll: „Unsere Fortschritte im Osten scheinen nicht günstig auf die Gesetzlosen einzuwirken, ebenso wenig auf Nikolai Nikolajewitsch“ (den dortigen russischen Oberstkommandierenden). Nach und nach verstand man sich schließlich zu vereinzelten gemeinsamen Essen, an deren einem Exzellenz von Schönstedt „Mit warmen Worten des Geburtstages unseres großen Gründers des Reiches, Fürsten von Bismarck, gedachte“. Natürlich regte sich auch in diesem Kreise in solcher Zeit die Wohltätigkeit. Wiederum gab den Anstoß von Schönstedt, der kaum einmal fehlte, und den wir uns jetzt als sehr in den Vordergrund der Gesellschaft tretend vorzustellen haben. Da lag „im Kasten“ noch immer jene goldene Schnupftabaksdose, deren Zweck die jetzigen Gesetzlosen für sich sicher nicht bejahten. Die einstimmige Annahme des Antrags, sie zu verkaufen, führte dazu, daß die von der Goldankaufsstelle des Reichsbank-Direktoriums eingegangenen 100,50 M dem Garde-Korps des III. Armee-Korps für Liebesgaben zum Weihnachtsfest 1916 überlassen wurden.

Ein paar Glückwunschschreiben an Hindenburg bei besonderen Gelegenheiten sprechen von Freude und Dankbarkeit im Kreise der Gesetzlosen. Im Dezember 1916 wurde im Protokoll „die freudige Stimmung über den Fall von Bukarest“ vermerkt. Andrerseits fehlte die Sorge nicht. So verhehlte Großadmiral von Tirpitz in seinem Antwortschreiben vom 14.Mai 1916 auf die Mitteilung von seiner Aufnahme nicht: „Noch drückt die Sorge um die Zukunft unseres Volkes zu sehr auf mein Gemüt, als daß Sie von mir viel Geist und Witz in Ihrem vertrauten Kreise erwarten können. Darin stimme ich mit Ihnen überein, daß wir den Kopf hochhalten müssen, was auch immer die Zukunft uns bringen mag.“

Auch in den weiteren Kriegsjahren läßt sich ein fast durchweg reges Gesellschaftsleben feststellen. Das „tres faciunt collegium, der schwächste Besuch seit Kriegsbeginn“ (15. August 1918) bildet eine Ausnahme. Wenige Monate darauf verrät die Angabe einer noch von dreizehn Mitgliedern und einem Gast besuchten Zusammenkunft „am Tage des Bekanntwerdens der schmählichen Wilson-Note“, wohin der Weg ging, und wortkarg scheint die Notiz des Zwingherrn: „Die Tagung vom 14. XI. (1918) fiel aus ob der Nachwehen der gewaltsamen politischen Umwälzung.“ Auch das Schicksal der Gesetzlosen Gesellschaft konnte bei der Art ihrer Zusammensetzung fraglich erscheinen.


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Letzte Änderung: 09.02.2020
© Herbert Voß
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