Die Gesetzlose Gesellschaft zu Berlin Gegründet in Berlin am 4. November 1809 |
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Anfänge (1809-1810) Aufstieg und Beharrung (1811-1840) Unruhige Jahrzehnte (1840-1870/71) Wandlung (1871-1918) Festigung (1919-1933/34) Post Nubila Phoebus (1934-1959) Ergänzungen (1960-1984) |
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Eine günstige Rückwirkung hat der Umbruch auf das Gedeihen der Gesellschaft aber doch ausgeübt: die Fülle des politischen Geschehens förderte den Wunsch nach einer Aussprache im vertrauten und sachkundigen Kreise, und so ergab sich ein erheblich stärkerer Besuch der Zusammenkünfte. Noch viel mehr wirkte sich dann weiterhin der Krieg aus, wobei ins Gewicht fiel, daß damals alle sonstigen Gelegenheiten geselligen Verkehrs immer mehr zusammenschrumpfen. So brachte die Kriegszeit einen ungewohnt starken Besuch der regelmäßigen Zusammenkünfte und bei diesen stets interessante Gespräche, also eine letzte Blütezeit der Gesellschaft vor dem Zusammenbruch.
Der Zwingherr Schrader hatte die Zusammenkünfte in die wegen ihrer Leistungen in Küche und Keller berühmten Weinstuben von Ewest in der Behrenstraße verlegt und damit allgemeinen Beifall gefunden. Dort tagten die Gesetzlosen an jedem ersten und dritten Freitag im Monat bei einem Glase Wein, und dort fanden auch, etwa vierteljährlich, gemeinsame Essen statt, die stets besonders gut besucht waren. Die Weinabende konnten bei Ewest, der über reiche Bestände in seinem Keller verfügte, bis gegen Ende des Krieges durchgehalten werden. Die gemeinsamen Essen mußten aber, als die Beschaffung der Verpflegung immer schwieriger wurde, dort aufgegeben werden. Hierfür fand die Gesellschaft jedoch besten Ersatz, zunächst im Gardekavallerieklub in der Bendlerstraße und nach dessen Vernichtung durch Fliegerangriff im Klub von Berlin in der Jägerstraße 2-3. Dort fand am 16.Februar 1945 zum letzten Male ein Essen statt. Dann folgte bald die Einnahme Berlins mit ihren furchtbaren Begleiterscheinungen. Die Gesetzlose Gesellschaft hat in dieser wirren Zeit einen schmerzlichen Verlust erlitten: eine Kassette, die in den Räumen von Ewest verblieben war, ist dort von den Russen geraubt worden. Sie enthielt nichts von materiellem Wert, wohl aber unersetzliche Schriftstücke, darunter die Niederschriften über die Zusammenkünfte der Jahre 1935 bis 1945. Ein zweiter Gesetzloser, Tischbein (1937) aus der Familie des bekannten Goethe-Malers, weiß einiges zu berichten, was die Semperschen Erinnerungen ergänzt. Das Zeremoniell für die Aufnahme neuer Mitglieder war damals so: der Neue wurde aufgefordert, an einer Zusammenkunft der Gesetzlosen als Gast teilzunehmen. Gefiel er, so wurde er auch zur nächsten Zusammenkunft eingeladen, und dann wurde - man sandte ihn solange auf den Flur - über seine Aufnahme abgestimmt. Fiel die Abstimmung günstig aus, so durfte der Aspirant wieder eintreten und wurde vom Zwingherrn als ein neues Mitglied begrüßt.
Die Gesetzlose tagte damals zweimal monatlich nach Tisch in Ewests Weinstuben. War die traditionelle halbe Flasche geleert, so gingen die Unentwegten zu Siechen. Wir saßen dort im allgemeinen Lokal, nicht im Einzelzimmer (der sogenannten Badewanne) und erfreuten uns an dem guten Siechenbier. Ganz Verschwenderische leisteten sich ein Tatarbrot dazu. Bei Ewest fanden auch die Festessen der Gesetzlosen statt. Ein paar Erinnerungen daran! Es gab außer der Gesetzlosen noch andere uralte Tischgesellschaften in Berlin: den Montagsklub und die Christlich-Brandenburgische Tischgesellschaft. Zu einem unserer Festessen hatte unser Zwingherr den Staatssekretär Hoffmann als Vertreter der Christlich-Brandenburgischen eingeladen. Der Zwingherr begrüßte Hoffmann sehr feierlich und förmlich. Hoffmann antwortete in gleicher Feierlichkeit. „Dem alten Studenten kamen Erinnerungen an den Besuch einer Kartellkorporation.“
Tischbein fährt dann fort: „Es waren die Jahre des Nationalsozialismus, in denen ich den Gesetzlosen angehörte. Ich kann mich nicht erinnern, daß sich irgendeiner aus unserem Kreise zum Tausendjährigen Reich bekannte. In meinem Gedächtnis ist sogar haften geblieben, daß nach einem unserer Festessen unter allseitigem Schmunzeln ein satirisches Gedicht verlesen wurde, das kaum den Beifall der Gestapo gefunden hätte. Der Nationalsozialismus störte also die Harmonie unter den Gesetzlosen nicht. Meine letzte Erinnerung an die Gesetzlose Gesellschaft ist ein Nachmittag im Sommer 1944. Obwohl es mittags einen ziemlich ernsten Fliegerangriff gegeben hatte, fanden der Oberpräsident v. Meibom und ich uns zur festgesetzten Stunde bei Ewest ein. Aber dort war unseres Bleibens nicht, das Haus hatte gelitten. Wir siedelten in ein Bierhaus in der Friedrichstraße um.“
Diesen „Erinnerungen“ mag sich ein kurzer Hinweis auf einige in den Jahren 1933/34 bis 1945 neu eingetretene Mitglieder anschließen. Wenigstens von den Dahingeschiedenen unter ihnen mögen ein paar genannt sein. Daß im wesentlichen hohe Beamte und Offiziere auch damals zur Gesellschaft fanden, ist in den Semperschen Erinnerungen schon ausgesprochen worden. Da finden wir neben dem liebenswürdigen Mosle (1934), einem der vielseitigsten Mitglieder, der die ganze Welt bereist hatte und als Berliner Polizei-Vizepräsident 1932 im Zuge der damaligen politischen Entwicklung seinen Dienst quittierte, den tüchtigen Vertreter der Wirtschaft, Dr. Eversmann (1935), ein rühriges Mitglied der Industrie- und Handelskammer, oder den Präsidenten des Reichsaufsichtsamts für Privatversicherung Josef Kissel (1934). Ferner begegnen der immer an schweren Problemen hängende, überaus ehrgeizige ehemalige Staatssekretär im Ernährungsministerium Heinrici (1935) und als eine lichtere Erscheinung Walter v. Hagens (1938), der Sohn des Gesetzlosen von 1913. Er hatte sich um den Aufbau der justizverwaltung im Freistaat Danzig Verdienste erworben und hat während seines Ruhestandes in großer Anhänglichkeit an "seine" Gesetzlose sie nachhaltig belebt. Die Wissenschaft repräsentierten die Professoren der Volkswirtschaft Preyer (1939) und Wiedenield (1940) und der Kenner der osteuropäischen Geschichte Hoetzsch (1940). Vom Sachsen ganz zum Preußen geworden, hat er sich auch als politischer Leitartikler der Kreuzzeitung einen Namen gemacht. Ganz anderer Art war der im demokratischen Fahrwasser segelnde Mediziner Nordmann (1940). Ein glänzender Operateur, war er an einem Krankenhaus im Norden Berlins tätig und hat, selbst ein schwerkranker Mann, noch zwei Tage vor seinem Tode in Höxter, wohin ihn die Zerbombung Berlins vertrieben hatte, meisterlich das Skalpell gehandhabt. Und schließlich wollen wir uns in Ehrfurcht vor dem Namen des Freiherrn von Arnim (1945) neigen. Der Urenkel Ludwig Achims von Arnim (1813) und Schwiegersohn v. Hagens (1938) ist erst unmittelbar nach Kriegsende zur Gesellschaft gekommen und dann in dessen Ablauf verstrickt worden. Ein grausames Geschick ließ ihn nach dem russischen Einmarsch in die Hände des Feindes fallen. Er ist bald darauf in Tula südlich Moskau gestorben.
Nicht ohne Grund hatte der Zwingherr bei der Feier des 135. Stiftungsfestes am 4. November 1944 im Deutschen Klub, an der 23 Mitglieder teilnahmen, von der Trauer manches Gesetzlosen um einen seiner Angehörigen gesprochen, von vielen Mitgliedern, die ihr Heim verloren hatten, und von allen als Menschen, die sorgenerfüllt auf das schwere Ringen an den Grenzen des Reiches blickten. Und doch blitzte gelegentlich die alte Lust an der Freude auf, wenn Semper und Mussehl humorvoll lateinische Briefe wechselten oder Semper eine Postkarte auf Griechisch abfaßte, wie auch Hiller von Gärtringen für die Gesetzlose griechische Verse drechselte. Wie hätte Lachmann das Herz im Leibe gelacht! Die dem Kreise innewohnende Lebenskraft flammte eben immer wieder auf, mochte sie sich gelegentlich auch weniger regen. Sie ist den Gesetzlosen auch nach dem unseligen Kriege beschieden gewesen, nur hat sie langsamer als nach dem ersten Weltkriege zum Wiederaufbau der Gesellschaft geführt. Hatte man vielleicht gehofft, wie damals unmittelbar nach Ende der militärischen Kampfhandlungen die Zusammenkünfte aufnehmen zu können, so war daran nicht zu denken. Bei der russischen Besetzung waren die Ewestschen Weinstuben zum Teil zerstört, zum Teil ausgeplündert. Die meisten Mitglieder hatten die Stadt vor dem endgültigen Zusammenbruch verlassen, auch der Zwingherr Semper. Der Verlust seiner Wohnung hatte ihn schon im Juli 1943 gezwungen, sich nach Häsen im Kreise Ruppin zurückzuziehen. Er war, soweit angängig, zu den Zusammenkünften erschienen, schließlich hatte ihn der russische Vormarsch nach Göttingen verdrängt. Die damals in Berlin herrschenden Zustände taten ein übriges, um die alten Zusammenhänge und Bindungen nicht zu erneuern.
Da war es der Oberpräsident v. Meibom (1935), der zu neuem Leben aufrief. Die Lage Berlins hatte sich durch die amerikanische, englische und französische Besetzung weiter Stadtteile neben den Russen etwas gebessert, als v. Meibom im Auftrage Sempers die in Berlin weilenden Gesetzlosen Hartwig (1925), v. Hagens (1938) und Hemptenmacher (1938) zum 10. November 1945 in seine Wohnung lud, um weitere Schritte zu besprechen. Es wurde vereinbart, die Gesellschaft unter allen Umständen fortbestehen zu lassen. Die Zusammenkünfte sollten zunächst in den Privatwohnungen der Mitglieder stattfinden. So haben sich bis zum Herbst 1952 die Gesetzlosen 54mal bei v. Melbom und dreimal bei v. Hagens versammelt zu einer von der Hausfrau gereichten Tasse Tee unter Verzehr mitgebrachter Brote, das Rauchzeug nicht zu vergessen. Zweimal, im September und November 1949, traf man sich in einem Bierrestaurant am Kurfürstendamm, Ecke Joachimstaler Straße, dem Berliner Kindl“. Über neun stieg die Besucherzahl nicht. Im Jahre 1948 stand fest, daß der Zwingherr Semper nach Berlin nicht heimkehren würde. Er trat am 4. Juni von seinem Amte zurück. Damit war in der langen Geschichte der Gesellschaft zum erstenmal der Fall eingetreten, daß ein Zwingherr zu Lebzeiten aus seinem Amte schied. Von Meibom, der die laufenden Geschäfte inzwischen geführt hatte, wurde der Nachfolger.
Bis zum Herbst 1952 konnten drei neue Mitglieder gewonnen werden: 1945 der schon genannte Freiherr von Arnim. 1949 kam der Oberpräsident a. D. Melcher hinzu, der einst (1923) als Essener Polizeipräsident von den Franzosen aus dem Ruhrgebiet vertrieben worden war. 1951 trat der damalige Oberverwaltungsgerichtsrat Siegert zu uns, der vom Zwingherrn ausersehene, doch schon 1958 verstorbene „Kronprinz“. Mit dem 3. Oktober 1952 setzte ein neuer verheißungsvoller Abschnitt in der Geschichte der Gesellschaft ein. Zum erstenmal bot das Restaurant im Schloßhotel Steglitz, dem ehemaligen Gutshause Wrangels, eine Versammlungsstätte. Seitdem vereinen, sich hier die Gesetzlosen an jedem ersten Freitag im Monat um 18 Uhr. Ein Jahr darauf, am 6. November 1953, konnte hier sogar wieder der Stiftungstag mit einem Essen gefeiert werden. Er ist seitdem alljährlich wiederholt worden, mehrfach eingeleitet durch Vorträge Hoppes über die geschichtliche Entwicklung der Gesellschaft, einmal durch Solgers Ausführungen über die Naturforscher unter den Gesetzlosen. Nach wie vor bleibt eine Aufgabe der Gesellschaft, ihre Überalterung zu überwinden. jüngere Mitglieder würden gewonnen werden können, wenn im Zusammenhang mit einer Wiedervereinigung die Bundeszentralbehörden in die alte Hauptstadt verlegt würden. Denn daß die Gesetzlose Gesellschaft noch immer Anziehungskraft besitzt, erweisen die von 1952 bis 1959 aufgenommenen 24 neuen Mitglieder. Aus insgesamt 24 Berliner Mitgliedern besteht die Gesellschaft zur Zeit - 150 Jahre nach ihrer Gründung. Geistreiche, berufskundige und tatkräftige Männer, deren Gedanken um Vaterland und Freiheit kreisten, ohne den Reiz veredelter Geselligkeit zu verschmähen, haben damals das Schicksal meistern helfen. Wenn die Heutigen „still sich freuend ans Ende dieser schönen Reihe sich geschlossen“ sehen, so möchten sie zu einer Zeit, in der die Wolken über Berlin - und das heißt über unserem deutschen Vaterlande - schwärzer und tiefer hängen, nicht schlechter erfunden werden als die gesetzlosen Ahnen.